Begleitung von Übergangs- und Wandlungsprozessen
Naturtherapeutisches Arbeiten – Sichtweisen und Methoden
von Rita Arzberger-Schmidtner und Wolfgang Schmidtner
Die therapeutische Begleitung von Übergangs- und Wandlungsprozessen, besonders bei entwicklungsbedingten, phasenspezifischen Lebensübergängen oder krisenhaften Lebensereignissen, ist eines der wichtigsten Felder, in denen das ‚Erlebensorientierte therapeutische Arbeiten in und mit der Natur‘ (Naturtherapie), wie es von Wernher P. Sachon an der ‚Schule für Naturtherapie‘ gelehrt wird, ihre Beiträge leisten kann. In den letzten Jahren haben wir viele Menschen begleitet, die sich in einem solchen Prozess befanden und möchten zwei naturtherapeutische Übergangsriten vorstellen, die wir für Menschen in Übergangskrisen entwickelt haben.
Zwei Lebensphasen stehen idealtypisch für zwei unterschiedliche Arten eines Übergangs: Das späte Jugendalter mit dem Übergang ins Erwachsenenleben einerseits und der Übergang in der Lebensmitte andererseits, an dessen Ende Rolle, Leistung und die Ausrichtung an Normen relativiert werden können. Idealtypisch deswegen, weil die für diese Lebensphasen charakteristischen Übergangsweisen keineswegs auf diese beiden beschränkt sind und, umgekehrt, auch in diesen beiden Phasen Übergänge mit der „Färbung“ der jeweils anderen anzutreffen sind. Zwei kurze Exkurse führen uns zum Thema:
Wir orientieren uns an der Entwicklungstheorie Robert Kegans (‚Die Entwicklungsstufen des Selbst‘).
Nach Kegans Vorstellung befindet sich der Mensch in einer lebenslangen Entwicklung, bei der mehr oder weniger lange Phasen der Konstanz (Gleichgewicht) sich mit Phasen häufig krisenhafter Bewegung im Sinne eines Übergangs abwechseln. In Phasen des Übergangs, ändert sich in erster Linie die Qualität der Abgrenzung zwischen sich selbst (dem Selbst eines Menschen) und dem, was als Umgebung (als Welt) wahrgenommen wird. Dabei wird der Teil der Welt zunehmend als größer und unabhängiger gesehen und erlebt, der Teil des Selbst als kleiner und relativer. Der Mensch löst sich aus seinem gefühls- und wahrnehmungsmäßigen Eingebundensein, wie es für jede Entwicklungsstufe charakteristisch ist. Er erkennt das Provisorische dessen, was bisher als endgültig erschien. Das Selbst „ist“ nicht mehr länger die Erlebens- und Wahrnehmungsqualität der vorangegangenen Stufe, sondern es „hat“ deren Möglichkeiten, es verfügt über sie in einem weiter gewordenen Rahmen. Der Mensch kann dann über den Tellerrand der vorherigen Stufe hinaus sehen.
Der entscheidende Übergang im späten Jugendalter bzw. im frühen Erwachsenenalter ist in Kegans Modell der von der Stufe des von ihm so genannten zwischenmenschlichen Selbst auf die Stufe institutionellen Selbst, der Übergang in der Lebensmitte der von der Stufe des institutionellen auf die des überindividuellen Selbst.
Der Prozess über diese drei Entwicklungsstufen ist, stark verkürzt, folgendermaßen charakterisierbar:
Ausgangspunkt sind zwischenmenschliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen zu anderen. Bedürfnisse, Interessen und Wünsche können im Dienst dieser Beziehungen zurückgestellt werden (zwischenmenschliches Selbst). Auf dieser Grundlage entwickelt der Mensch die Fähigkeit, geregelte Beziehungen einzugehen, selbstreflexiv zu werden in Hinblick auf seine Rollen und Normen und schließlich gemäß einem Selbstkonzept zu leben. Er erlangt Identität in und trotz der Widersprüchlichkeit der äußeren Welt (institutionelles Selbst). Diese Basis ermöglicht es ihm schließlich, diese Widersprüchlichkeit als ein Gewebe von zu ihm selbst gehörenden Systemen wahrzunehmen. Das Selbst ist nun fähig, die haltgebenden äußeren Rollen und Normen zugunsten einer inneren Organisation zu relativieren (überindividuelles Selbst).
Wir achten im Erleben der Menschen, mit denen wir arbeiten, auf Qualitäten, die auf den Übergang zwischen den Stufen hinweisen, unterstützen und verstärken durch unsere Rückmeldungen diesen Prozess.
Wir verwenden den so genannten „Kreis des Selbst“ als Wahrnehmungshilfe, den wir bereits in einem früheren Artikel (e&l, 11. Jhrg., Juli 2003) ausführlicher dargestellt haben. In dieser Vorstellung wird das Leben insgesamt ebenso wie einzelne Lebensabschnitte als ein vier Stationen umfassender Kreislauf gesehen. In dieser Sicht wird den vier Himmelsrichtungen und ebenso den vier Jahreszeiten jeweils ein ganzer Komplex menschlichen Erlebens zugeordnet:
Süden / Sommer: Kindheit, Vertrauen, Spiel, Affekte und Emotionen;
Westen /Herbst: Jugend und frühes Erwachsenenalter, Wandel, Introspektion, Gefühl;
Norden / Winter: Reifes Erwachsenenalter, Arbeit und Dasein für andere, Vernunft;
Osten / Frühling: Tod / Geburt, Erkennen und Spiritualität, Fähigkeit zum Loslassen;
Unsere Vorstellung, wenn wir mit diesem Modell arbeiten, ist vereinfacht folgende: wenn es um Reifung mit dem Schwerpunkt „ins Leben hinein“ geht, ob in der Jugendzeit oder in anderen Lebensabschnitten, geht die Reise immer von einem Leben in Unschuld (Süden) durch eine dunkle und oft schwierige Phase (Westen) in ein verantwortungsvolles Leben (Norden). Der Übergang im späten Jugendalter stellt sich also in diesem Sinne als ein Süd/Nord-Übergang durch den Westen dar. Glückende Übergänge dieser Art sind oft vom Gefühl der Herausforderung begleitet, getragen vom Zutrauen der empfangenden Gemeinschaft.
Wenn es um Zuversicht und Sinnfinden auf und nach dem (oder einem) Lebenshöhepunkt geht – und auch hier ist dieser Wandel nicht nur auf die Lebensphase, in der das Altern fühlbar wird, beschränkt – führt der Weg von einem Leben in Arbeit und Verantwortung (Norden) durch eine Phase des sich Relativierens und Loslassens (Osten) in eine Phase neuen Vertrauens wie in der Kindheit (Süden) in Kräfte des Ursprungs. Solche Übergänge stellen sich also in diesem Sinne als ein Nord/Süd-Übergang durch den Osten dar. Glückende Übergänge dieser Art sind meist vom Auffinden tief empfundenen Friedens gekennzeichnet, getragen vom Respekt der Gemeinschaft.
Für diese beiden grundlegenden Arten von Wandlungsprozessen haben wir je eine Vorgehensweise entwickelt. Wir arbeiten mit beiden oft und gerne. Den „Übergangsritus mit Höhlendurchquerung“ bieten wir Menschen an, deren Wandlung mehr den Charakter eines Süd/Nord-Übergangs hat. Die Übung „Auf dem Weg“ passt besser für die „Färbung“ eines Nord/Süd-Übergangs.
1. Übergangsritus mit Höhlendurchquerung
Am Anfang stand das Auffinden eines überaus geeigneten Ortes: Eine Höhle auf der Schwäbischen Alb, in der man nicht umzukehren braucht, also mit unterschiedlichem Ein- und Ausgang.
Der Weg zur Höhle ist schmal und steil und nach Regenfällen schmierig. Der letzte Anstieg geht über Felsenstufen kurz und steil hoch. Bereits der Höhleneingang ist etwas eng, an mehreren Stellen wird der Durchgang immer wieder ziemlich schmal. Es ist häufig notwendig, sich seitlich fortzubewegen. Der Boden ist uneben und blockig, ansteigend an ein paar Stellen und wieder abfallend. Die Form der Höhle erzwingt es, sich hin und wieder bückend und das letzte Stück, das sehr eng ist, kriechend bis robbend fortzubewegen. Für die meisten, mit denen wir gearbeitet haben, war es möglich durchzukommen. Die objektiven Gefahren sind gering. Die Orientierung in der Höhle ist unschwierig.
Am Höhlenausgang muss ein Stück abgestiegen und dann eine Eisenleiter hochgeklettert werden. Der Einstieg zur Leiter ist für manchen etwas hoch. Dann führt ein klar erkennbares trockenes und felsiges Bachbett bergan zum bekannten Weg. Danach kann sich jeder am Auto säubern und umziehen und den mitgebrachten Proviant mitnehmen zur Feuerstelle, wo das Feuer bereits brennen und wärmen wird.
Unser Setting ist ausgerichtet an den klassischen Phasen (van Gennep) jedweden Übergangs:
Trennungsphase: Nach der Klärung des eigenen Anliegens geht jeder für sich eine halbe Stunde in die umgebende Natur und lässt sich von einem Symbol ansprechen, das für das Bisherige, Zu-Ende-Gehende steht. Es wird gespürt, wenn es passt. Nach einer halben Stunde treffen wir uns hier wieder und gehen gemeinsam zum Höhleneingang. Vor der Höhle soll jeder die für ihn passende Art und Weise finden, sich von dem Symbol zu verabschieden und es zurückzulassen. Für dieses kleine Ritual wird den Teilnehmern nahegelegt, dem Symbol und damit dem, was bisher Gültigkeit hatte, Respekt und Achtung zu zollen.
Schwellenphase:Das Alte wird zurückgelassen, das Neue ist noch nicht vorhanden. Der Durchgang durch die Höhle beinhaltet per se die Symbolik der dunklen, schattenreichen Zeit eines Übergangs. Diesen Weg muss jeder alleine gehen, in der Höhle genau so wie in der Lebenswirklichkeit eines Übergangs. Er bringt jeden in Kontakt mit Empfindungen und Erfahrungen, die wichtig für die Markierung des Wendepunktes – den Wandel – sind. Auf was stößt mich die natürliche Gegebenheit der Höhle? Verschlüsselt oft zeigen sich Aspekte, noch nicht gesehene Qualitäten, die unterstützende Kräfte sein können, das Leben anders zu meistern.
Wiederangliederungsphase: Am Ende der Höhle wird jeder im neuen Licht willkommen geheißen und es wird bestätigt, dass er die dunkle Zeit überwunden hat. Auf dem Weg zum Feuerplatz besteht die Möglichkeit, ein neues Symbol für die neue Phase im Leben zu finden.
Während des gesamten Rituals bis zum Treffen am Feuer ist es gut, wenn jeder still für sich seinem Erleben nachgeht. Am Feuer treffen wir wieder zusammen. Wir stärken uns mit Essen und Trinken. Dann erzählt jeder seine Geschichte, die von allen bestätigt wird (mit einem kräftigen „ho“) und von uns gespiegelt wird.
Das „Spiegeln“ ist insbesondere bei Übergangsriten und anderen naturtherapeutischen Erfahrungsräumen eine Art und Weise, wie in der Natur Erlebtes „ans Licht gehoben“ wird. Die mitgebrachte Story wird so aufgegriffen, dass sich Möglichkeiten zur Fortsetzung des eigenen Erlebens eröffnen. Das Gesagte wird oft zum großen Teil in den Worten des Erzählers wiedergegeben, getragen von tiefem Respekt vor dem Erzähler und seinen Erfahrungen. Dabei werden fast immer Zusammenhänge deutlich, die der Erzähler so klar noch nicht gesehen hat, die aber als etwas Eigenes erlebt werden, als etwas, was ihn schon immer begleitet hat, für das nur noch nicht die passenden Worte oder der passende Rahmen gefunden wurde. Etwas bisher Ungreifbares bekommt, durch die Worte in Sprache gebracht, eine greifbare Gestalt. Durch den neuen Rahmen erhält die Erfahrung eine spezifische Bedeutung.
Die Entwicklungspsychologie Robert Kegans als auch Das Konzept des „Kreises des Selbst“ geben uns in der Naturtherapie die dafür notwendige Orientierung. Wir suchen in den Geschichten nach Schlüsselworten, die die Erzählungen und das Erleben, von dem sie berichten, den anstehenden Entwicklungsschritten zuordnen lassen.
Doch noch wichtiger als diese Zuordnung sind die Haltung, in der dem Erzähler und seiner Geschichte begegnet wird, und der Rahmen, in dem erzählt und gehört wird. Bill Plotkin beschreibt dies in wunderbaren Worten.
Vom Erzählen einer Story, vom empfindungsfähigen Zuhören und vom Spiegeln (nach Bill Plotkin, Soulcraft) Dem Erzählen der Story des eigenen Erlebens sollte nichts Überhöhtes anhaften, es sollte direkt sein, gerade so, wie es geschah. Erzähle einfach von deinem Erleben – von deinem Kummer, von deinen Freudenausbrüchen, von deinem Umherschweifen und von deinen Begegnungen mit deiner Seele und mit der Natur, der belebten und der unbelebten. Deine Story sollte deine tiefsten Wahrheiten zum Ausdruck bringen, ohne Rücksicht auf oberflächliche „Fakten“. |
Beispielhaft seien im Folgenden Auszüge aus einer Story wiedergegeben, die ein 20-jähriger junger Mann von seiner übergangsrituellen Höhlendurchquerung mitgebracht hat. Wir geben sie in tabellarischer Form wieder, die parallel aufzeigt, wie wir als Spiegel auf die einzelnen Passagen seiner Erzählung reagiert haben. Tatsächlich hat er natürlich seine Geschichte durchgehend erzählt und wir haben, einander abwechselnd, anschließend gespiegelt. Zur Erinnerung: In der Begrifflichkeit von Kegan geht es um den Übergang vom zwischenmenschlichen zum institutionellen Gleichgewicht, im Modell des „Kreises des Selbst“ um den Durchgang durch den Westen. Der Spiegel greift das Gesagte im Licht der Charakteristika dieses Übergangs auf und markiert damit die Richtung des erlebten Prozesses.
Mitgebrachte Story: |
Unser Spiegel: |
Aus der Eröffnungssitzung mit Formulierung des Anliegens für ein Übergangsritual. |
Der Gebrauch der Gegenwart legt nahe: so wie es im Übergangsritual war, so ist es sonst auch. |
Bericht von der halbstündigen Wanderung mit dem Auftrag, sich von einem Symbol finden zu lassen, das für das stehen soll, von dem man sich trennen will. |
Zum Folgenden vergleiche insbesondere Kegans Gedanken: Am Ende dieses Übergangs gehört der Mensch sich selbst, er ist nicht mehr „verschmolzen“ mit den anderen, er hat Identität. |
Bericht vom Durchgang allein durch die Höhle. |
Gemeinsam Absteigen und sich den damit verbundenen Anforderungen lustvoll, fast übermütig zu stellen, versetzt dich in eine tolle Stimmung. Hier gibt es wieder dieses alte vertraute Gemeinsame und du bemerkst, wie du diese Phase deines Lebens genutzt hast: wie du spielerisch leicht dein Gleichgewicht halten kannst und zu Sprüngen und Flanken imstande bist. Du bist für Neues gut gerüstet und strebst sogar dabei nach einer besonderen Rolle: du übernimmst die Verantwortung dessen, der als Letzter geht. Zugleich bemerkst du allerdings jetzt das Neue. Wieder geht jeder und du hast noch einmal das Gefühl des Zurückbleibens. Du wirst dieses Mal sogar wütend auf alles, auf die Zumutungen und auf dich selbst und pfefferst den Stein, dein Symbol für das, was zu Ende geht, ins Gebüsch. |
Bericht vom Rückweg. |
Nun sieht die Welt anders aus. Sie ist wieder zum Genießen. Aber es ist ein neuer Genuss. Es ist nicht mehr der Genuss des Kindes, das mal etwas ausprobiert, aber nur um wieder ins Vertraute zurückzukehren. Nun ist es der Genuss, der der inneren Ruhe des Mannes entspringt, der seine große Herausforderung bestanden hat und dessen Kämpfe darum der Vergangenheit angehören. Für soviel Gegenwart braucht man kein Symbol zu finden. |
2. „Auf dem Weg“ – eine übergangsrituelle Übung für Menschen in Wandlungsprozessen
Sich neu orientieren, Altes abstreifen, hat im Erleben nicht immer den Charakter brennender Herausforderung. Gerade in der Lebensmitte bereitet sich der Wandel eher allmählich vor. Der emotionalen Färbung dieses Übergangs entsprechen Sätze wie: „Das war es noch nicht“, „Da ist noch etwas zu ordnen“, „Du bist noch nicht fertig“.
Auf einem Workshop von Steven Foster und Meredith Little habe ich selber dieses „Du bist noch nicht fertig“ in einem wunderschönen Erleben in der Natur geschenkt bekommen: Ich geriet auf meinem Weg entlang eines Baches im Auwald der Donau an ein Altwasser, dem Ursprung dieses Bach. Das Bachbett erweiterte sich immer mehr und die Fließgeschwindigkeit des Wassers nahm immer mehr ab, bis man sehr genau hinsehen musste, um überhaupt noch eine Bewegung erkennen zu können. Es war ein düsterer Ort, mit absterbenden Bäumen, die im Wasser standen. Meine Aufgabe bestand darin, meinen Lebensweg zu gehen, und dieser Ort war für mich der Inbegriff der Verlangsamung im Alter und des Naherückens des Todes. Ich spürte die Erschütterung und war bereit, das so anzunehmen. Unwillkürlich drehte ich mich noch einmal um, ich wollte noch einmal zurückschauen auf den langen Weg, den ich gegangen bin. Und da lag, wenige Meter vor mir, mitten auf dem Weg, ein großes, in meinem Erleben sogar riesengroßes grünes Blatt. Das wirkte auf mich wie ein Wegweiser in eine neue Ferne: „Nein! Das war nur eine Vorschau! Du bist noch nicht fertig. Du bist noch auf dem Weg, und zwar noch lange!“
„So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an ….“ (Rainer Maria Rilke)
Die Einstimmung zu unserer Übung „Auf dem Weg“ geschieht mit folgenden Worten: „Du hast dich entschieden, dich für längere Zeit der Natur anzuvertrauen. Und die Natur mit ihren Wegen und Plätzen wird dir ein Angebot machen. Du wirst dich selber wiederfinden in ihr. Du wirst deinen Weg finden und nur das ist wichtig: dein Weg. Wie bequem oder anstrengend, wie interessant oder langweilig, das spielt für dich keine Rolle mehr. Und ebenso wird es mit den Plätzen sein, die dir zur Rast oder als Nachtlager dienen. Sie mögen heimelig oder unheimlich sein, bequem oder unbequem, das spielt keine Rolle mehr für dich.
Wichtig ist nur: es sind deine Plätze. Und so werden deine Plätze dich zu neuen Wegen aussenden und deine Wege dich zu neuen Plätzen führen. Du gibst dich dem Geschehen anheim. Darin liegt der Sinn und dein Sinn wird dich finden.“
Die Übung „Auf dem Weg“ kann relativ kurz angelegt sein, nur über wenige Stunden, und sie kann lang sein: mehrere Tage bis zu einer Woche. Dies hängt sicher in erster Linie von der Bedeutung ab, die der Übung für den Wandlungsprozess beigemessen wird. Entsprechend ist natürlich die Zeit der Vorbereitung und Einstimmung, ebenso die Zeit der Nacharbeit wesentlich intensiver, wenn ein längerer Zeitraum gewählt wird.
Die Bedeutung des Erlebens kann wesentlich verstärkt werden, indem die Natur am Anfang über eine Schwelle betreten und am Ende wieder verlassen wird, d.h. die Erfahrung rituell „gerahmt“ wird. „Über die Schwelle gehen“ bedeutet, die Natur bewusst als einen Symbolraum zu betreten, in dem das äußere Geschehen in der Natur als Spiegel des seelischen Geschehens verstanden wird und umgekehrt. Dies kann bei mehrtägigem Vorhaben begleitet werden durch Fasten. Das Setting nähert sich dann einerseits dem einer Fastenwanderung. Dadurch kommt es in der Regel zu einer wohltuenden Verlangsamung und einer besonders auf die Nähe ausgerichteten Wahrnehmung. Und andererseits ist die Vorgehensweise, je länger der Erfahrungsraum angesetzt ist, um so ähnlicher dem großen von Foster und Little entwickelten Übergangsritus „Vision Quest“ mit seinen zahlreichen Riten, Geschichten und Gesängen. Das Fehlen der Mahlzeiten „entregelt“ den Tag, die Beschäftigung mit sich selbst bleibt im Vordergrund und es eröffnet sich insbesondere die spirituelle Dimension des Lebens, sei es auf dem Boden bestehender Religiosität oder auch ohne.
Nun auch hier zu einer exemplarischen Story: Auszüge aus der Geschichte einer Frau Ende vierzig, die einen Tag lang ihrer Wege ging und ihre Plätze fand. In der Begrifflichkeit von Kegan geht es um den Übergang vom institutionellen zum überindividuellen Gleichgewicht, im Modell des „Kreises des Selbst“ um den Durchgang durch den Osten. Die Aufgabe des Spiegels ist es, das Gesagte im Licht der Charakteristika dieses Übergangs aufzugreifen und damit die Richtung des erlebten Prozesses zu verdeutlichen. Was wir oben zum Thema Spiegeln ausführlich dargestellt haben, gilt auch hier.
Mitgebrachte Story: |
Unser Spiegel: |
Am Morgen beim Aufstehen. |
Der Aufbruch aus dem Angenehmen oder dem Vertrauten hat oft nichts Drängendes an sich. Zeit ist noch immer genügend da. Alleine einer Pflicht wegen machst du viel. Darum geht es hier nicht. Vielmehr muss es passen, es muss dir entsprechen. |
Die Anfahrt |
Das Vertraute scheint oft eine gute Basis für einen Aufbruch zu sein. So wie der Ort, von dem aus du oft zum Pilze Suchen gehst. Manchmal ist das auch so, aber genauso oft lädt einen plötzlich etwas Neues ein. Meist muss man dieser Einladung gar nicht spontan folgen, aber als Einladung erkennen muss man sie. Und du kommst auf sie zurück und unterziehst sie vom Auto aus einer gründlichen Prüfung. Und mit etwas innerer Vorsicht, keineswegs im Hurra-Stil, lässt du dich auf die Möglichkeit des neuen Weges ein und folgst einer Spur. |
Die erste Viertelstunde |
Du hast recht gut für dich gesorgt, aber irgendetwas kommt oft so, dass es einen unvorbereitet trifft. Diesmal ist’s der tiefe Schnee, zu dem deine Schuhwahl gar nicht passt. Der Schnee in den Schuhen ist dir unangenehm und du versuchst ihn mit offenbar wenig Erfolg herauszuholen. Wieder kommen die Gedanken des Zweifels und du versicherst dich noch mal deiner Möglichkeit zum Umkehren. |
Im Verlauf |
Die nassen Füße kannst du nun gut und mit etwas Humor hinnehmen, denn so richtig kalt werden sie beim Gehen nicht. Und dein Weg wird nun wichtiger. Es ist Zeit abzubiegen. Der alte Weg ist nun zu langweilig, du gehst hinein ins Ungespurte und Wilde. Der wilde Wald nimmt dich auf, indem er den Schnee von deinem Weg abhält. Du freust dich über seine Einladung und deine richtige Entscheidung. |
Platzwahl |
Die Lichtung spricht eine weitere Einladung aus. Ihr Charakter ist genau das, was du brauchst. Ein sicherer, etwas versteckter Ort, aber mit Blick nach draußen. Und dieser Ausblick, dieser Bezug zur Welt jenseits deines Platzes, zieht deine Augen regelrecht an und lässt sie gar nicht mehr los. Bis du dich in diese Richtung aufmachst. Ein Bach prüft noch ein letztes Mal, wie stark deine Zweifel sind und ob du nicht doch lieber umkehren willst. Und es zeigt sich, die Zweifel sind auf dem Rückzug, nicht du. Mut wird frei, ebenso Spannkraft für einen Sprung mit Risiko. Und der Sprung gelingt. Der Bach konnte dich auf deinem neuen Weg in die Welt nicht aufhalten. |
Rückkehr |
Der neue Weg belohnt dich mit einem morschen, umgefallenen Stamm, vermodert und angefressen. Doch wenn du erst mal den Schnee zur Seite räumst, bemerkst du, dass es Wichtigeres gibt als Angefressensein: Der Facettenreichtum und die Schönheit des Alters, für das der dazugehörende Verfall zur Nebensache wird. Auch die bepuderten alten Blüten zeigen dir das. |
Zum guten Schluss
Zum Abschluss der Rundenarbeit mit den Geschichten und dem Spiegeln der Geschichten lesen wir gerne das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Besonders der Schlussteil hat es uns angetan und bringt für uns den Wesensgehalt eines Übergangs auf den Punkt:
„Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden .
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Literatur:
Steven Foster u. Meredith Little, Vision Quest, Braunschweig 1991
Robert Kegan, Die Entwicklungsstufen des Selbst, München 1994
Bill Plotkin, Soulcraft, Novato (California) 2003
Arnold van Gennep, Übergangsriten, Franfurt a. M / New York 1999
Autoren:
Rita Arzberger-Schmidtner und Wolfgang Schmidtner
Weidachweg 120
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e-mail: naturtherapie.schmidtner@web.de
www.naturtherapie-schmidtner.de