„Zeit im Wald. Ruhig und aufmerksam schaue und horche ich. Vor mir schwebt eine kleine Spinne im Wind. Schaukelt an ihrem für mich fast unsichtbaren Faden, der irgendwo oben zwischen den Bäumen beginnt. Sicher möchte sie an einem Ort landen, an dem sie ihr Netz weben kann, denke ich. Zwischen einer Astgabel vielleicht. Fasziniert beobachte ich dieses „Windspiel“: ab und zu schwebt sie bewegungslos, getragen von dem sanften Wind. Dann krabbelt sie an ihrem eigenen Fädchen ein Stück höher hinauf, um anschließend wieder regungslos zu verharren, während der Wind sie sanft hin und her bewegt. Dann wieder lässt sie sich an ihrem zarten Faden ein Stück hinuntergleiten und verharrt wieder bewegungslos, als wenn sie einfach abwartet. In zeitlich ungleichen Abständen entfaltet sich vor meinen Augen ein ganz eigener Rhythmus. Ein Rhythmus zwischen geschehen lassen und eigenem Tun. Rhythmus der Seele? Ich bin sehr berührt. Meine Sehnsucht.“
Polarität des Lebens: Ich tue und ich lasse geschehen. Ich erlebe meinen Willen und ich erlebe mich intuitiv. Ich bin beides und noch viel mehr. In einer Haltung aufmerksamen Interesses und schauender Offenheit in Kontakt zu treten mit den Phänomenen der Natur bewirkt eine seelische Öffnung und bei genauerer Betrachtung immer auch eine Begegnung mit sich selbst. Da offenbaren sich Sehnsüchte und Ängste, Gedanken und Gefühle, die Art und Weise wie ich erlebe und empfinde, begegne und mich wieder trenne, erwarte und handle. Allein was meine Aufmerksamkeit erregt, was mich fasziniert, erschreckt oder abstößt ist bereits ein Phänomen für sich. Wenn ich achtsam begegne und meinem inneren Erleben gewahr werde, wird Natur zum „Erlebensraum“ und zum Spiegel meiner selbst.
„Erlebnis-Raum Natur“
Seit über 10 Jahren arbeite ich mit Menschen in und mit der Natur – nutze die freie Feld- und Waldlandschaft, die Anschaulichkeit der Naturprozesse, die Jahreszeiten, die Elemente wie Wasser oder Feuer für unterschiedlichste Gruppen. Naturerlebnisfreizeiten für Kinder, Abenteuer-Projekte für Jugendliche, Naturprogramme für Schulklassen und Kindergärten, um meine eigene Begeisterung und Liebe zur Natur mit anderen zu teilen und in der Hoffnung, dass Natur nicht mehr nur als „Ressource“ gesehen und behandelt wird. Ich arrangiere Naturerlebnisse für Erzieher, Lehrer, Förster, Biologen, Umweltbildner u.a. mit dem Ziel einer Integration dieser Naturarbeit in die unterschiedlichen Bereiche. Liebe zur Natur, zum Lebendigen draußen ist der zentrale Kern in der Naturpädagogik. Sie möchte Menschen einladen wieder näher in Kontakt zu treten mit dem Lebensraum Natur. Ihr Ziel ist es, eine Beziehung des Menschen zur Natur zu fördern, die von Liebe und Verantwortung geprägt ist und im weiteren Sinne die Bewahrung der Natur erhofft (vgl. Kalff, S. 11). Durch Spiele, anschauliche Wissensvermittlung, Wahrnehmungsübungen, Bauen, Gestalten, über Kunst und Märchen wird Interesse geweckt und ökologisches Verständnis gefördert. Durch erlebnispädagogische Übungen werden soziales Miteinander und das Erleben der Einzelnen in der Gruppe miteinbezogen. Auf diese Weise wird Natur zum vielfältigen Erlebnisraum.
Bei allen Menschen die ich in diesen Feldern beobachten und erleben durfte, wurde mir immer deutlicher (und fasziniert mich bis heute), welch‘ erfrischende, öffnende, wohltuende und förderliche Wirkung allein von dem „Freiraum Natur“ ausgeht, welche psychische Bedeutung dieser Raum für Menschen jeden Alters hat.
„Erlebens-Raum Natur“
Der Blickwinkel der Naturtherapie ist ein vollkommen anderer. Es geht um den Menschen: „Ziel der Naturtherapie ist der ganze Mensch, seine Entwicklung und Heilung“ (Sachon, Programm 2003). Das Erleben der Natur draußen wird zurBrücke zu sich selbst und zum Spiegel unseres Wesens. Wenn ich meinem inneren Erleben gewahr werde, wird Natur zum „Erlebensraum“. Im Spiegel der Natur können wir unser „Selbst-Natur-Sein“ erleben und unserer Selbst- und Naturentfremdung auf die Schliche kommen. Denn obwohl wir z.B. täglich Nahrung aufnehmen, ständig älter werden und unser Körper ein Wunderwerk der Natur ist, sind viele Naturprozesse, denen wir selbst unterliegen uns nicht bewusst. Indem wir uns selbst als Naturwesen erkennen, das Veränderung und Wandlungsprozessen unterliegt und eingebunden ist in das Netz des Lebens, kann Wachstum und Heilung geschehen. Über zunehmende Präsenz im eigenen, unmittelbaren Erleben in und mit der Natur können sich Achtsamkeit, Wertschätzung und Anteilnahme gegenüber dem Leben in all seinen Facetten entfalten. „Das Erleben verbindet selbstverständlich innen und außen“ (Sachon 1999, S.28).
Naturerleben in die menschliche Beziehung bringen
„Nur in dem Maße, als das Erleben nicht im Erlebnis stecken bleibt, sondern die gesamte Person durchwächst, vollzieht sich personale Wandlung“ (Sachon 1999, S.30). Das Erleben von sich selbst in der Natur ist die eine Seite. Um sich selbst jedoch in seinem eigenen Erleben tiefer zu erkennen und wandeln zu lassen, liegt die weitaus sensiblere Aufgabe darin, das Erlebte in die menschliche Beziehung zu bringen. „Wenn das, was erstmalig mit Staunen, Erschütterung oder Beglückung erlebt wird, nicht in die Einsicht gehoben wird, bleibt es beim bloßen Gefühl oder beim nur momentanen Impuls“ (Dürckheim, S. 100). Erst wenn wir als Menschen unser Erleben anderen Menschen mitteilen können, es mit ihnen wirklich teilen können und von ihnen bestätigt und uns in ihnen gespiegelt bekommen, bringen wir es sozusagen auch ins Leben. Hier brauchen wir wirkliches Interesse seitens der Menschen, um von diesen tiefen Erfahrungen zu berichten. Persönliche Entdeckungen wie: „ach, so bin ich also auch …“ bedürfen der Erfahrung, das unser Erleben in Ordnung ist so wie es eben ist. Ja, so habe ich mich erlebt. Es bedarf des Willkommenseins für die Person, die ich bin.
Integration und Begleitung
Diese Form der Integration – das Erleben einzubinden in die Person die ich bin – bedeutet für naturtherapeutische Arbeit als Pädagogin bzw. Therapeutin in prozessorientierter Begleitung einen wertschätzenden Rahmen und einen offenen Raum anzubieten, in dem die Teilnehmer von ihrem Erleben berichten können. Dies ist der heikle Punkt für jeden Teilnehmer: Kann ich mein Erleben wirklich mitteilen? Hier liegen unsere Unsicherheiten, schlechten Erfahrungen und unser Bedürfnis nach Schutz. Gleichzeitig finden sich hier die Sehnsüchte und wunderbaren Erfahrungsmöglichkeiten, nämlich nach Angenommen werden und Verbundenheit mit den Menschen. Gibt es Raum und Rahmen, dann berührt das Mitteilen dieses Erlebens nicht nur mich selbst, sondern auch die Zuhörer und gegenseitiges Berühren erwecket eine tiefe Qualität unseres Menschseins. „Jeder, der sich ernsthaft in diese Arbeit versenkt, wird verändert werden, ohne dass er durch Anstrengung darauf hinzielt, und die Veränderung wird in seinen Handlungen zum Ausdruck kommen“ (Brooks, S. 23).
Seit ich die naturtherapeutische Arbeit bei Wernher Sachon 1999 kennen lernte, lässt mich das tiefe Eintauchen in die Natur wie auch in meine eigene Seele nicht mehr los. Damit hat sich nicht nur mein eigener Zugang zur Natur und insgesamt mein Erleben in der Welt verändert, sondern auch die Art und Weise wie ich meine Seminare durchführe und wie ich meinen Seminarteilnehmern begegne. Seit 2002 führe ich eigene naturtherapeutisch orientierte Seminare durch und bin sehr dankbar für Blickwinkel und Haltung dieser Art der Naturbegegnung und „Menschenbegegnung“.
Selbsterfahrung im Spiegel der Natur
„Naturerfahrung – Selbsterfahrung“ lautete die Fortbildung, die ich gemeinsam mit Matthias Wörne und Markus Hirschmann erarbeitet und im vergangenen Herbst für die Dozentinnen und Dozenten der Naturschule Freiburg durchgeführt habe. In diesem 2-tägigen Seminar zur Einführung in die Naturtherapie legten wir die Schwerpunkte auf Übungen zur präsenten Begegnung in und mit Natur und zur Selbsterfahrung im Spiegel der Natur. Wichtig war uns viel Raum zu geben für die Integration des Erlebens im Rahmen unserer Gruppe. Ausgangspunkt waren für uns die Erfahrungen der Teilnehmer als Natur- und Erlebnispädagogen, denen ein innerer Bezug zur Natur draußen und Erfahrungen ihrerseits mit Gruppen in der freien Naturlandschaft gemeinsam ist.
Eher am Anfang stand eine Übung in der Natur, in der es darum ging, sich allein im Wald für 10 Minuten ein Plätzchen zu suchen und dort „inne zu halten und zu horchen nach außen und innen“. Nachdem wir uns wieder im Kreis versammelt hatten, luden wir die Teilnehmerinnen ein von ihrem Erleben zu berichten. Berichten jedoch nicht im reflektierten Sinne eines Berichtens über die Erlebnisse sondern als Erzählen im Fluss des eigenen Erlebens. Unsere Interventionen und Aufgaben im Sinne von Integration lagen im einfühlsamen Zuhören, im präsenten Spiegeln (mirroring) und in wenigen Fragen, die den Fokus immer wieder verschoben vom was habe ich erlebt zum wie habe ich erlebt und welche Wirkung hat das auf mich.
Da saßen wir dann etwa eine Stunde im Wald, gemeinsam staunend über den Reichtum an innerem Erleben. Es war für mich wirklich absolut beglückend, welche große Wirkung eine kleine Übung in der Natur bekommen kann, durch im Grunde zwei wesentliche Blickwinkel. Zunächst ist entscheidend die Art und Weise, wie die innere Haltung der Teilnehmer für die Naturbegegnung vorbereitet wird: dem eigenen Erleben folgen, präsent und offen begegnen und sich von Innen her ansprechen lassen (z.B. anstatt einen Platz zu suchen, sich von einem Platz finden lassen). Und der zweite Blickwinkel besteht in der Art und Weise wie ich die Teilnehmer mit ihrem Erleben empfange, wie ich sie willkommen heiße.
Im Rhythmus der Seele
Eine weitere Übung im Rahmen des Seminars „Naturerfahrung – Selbsterfahrung“ war die „FreieNaturerfahrung“: sich für die Dauer einer Stunde durch die Naturlandschaft bewegen und ansprechen lassen, sichselbst frei geben und vom Weg finden lassen. Hier gestaltet sich ein offener Lernraum ohne Aufgabe, ohne Konzept. Es gibt nichts zu erledigen. Die Öffnung der eigenen Wahrnehmung und präsentes Erleben sind der einzige Auftrag.
Das Erleben von Natur in dieser offenen Haltung erweckt eine eigene „Gangart“. Eine Gangart im Rhythmus der Seele, die uns zu Plätzen und Begegnungen führt, die uns auf wundersame Weise berühren und dabei heilsam wirken. Ob es Orte des Wohlfühlens, der Geborgenheit oder Orte des Erschreckens sind, immer sind es die Themen in unserem Leben, die beachtet werden wollen. In dieser Gangart kann die Naturwahrnehmung zur Selbstwahrnehmung, zum Spiegel unserer Selbst werden, wenn wir unser unmittelbares Erleben wahrnehmen, empfinden was immer wir empfinden. Aha. So erlebe ich. Hier begegnen wir unserer Intuition, der Sprache der Seele, unseres Herzens, die, wenn wir sie wahrnehmen und üben, uns wieder als „Spürbewusstsein“ (Sachon), als kontinuierliches Bewusstsein des eigenen Empfindens im Leben zur Verfügung stehen kann. Wir handeln dann nicht mehr unbewusst aus dem Bauch, wie es eigentlich treffend heißt, sondern aus wachsamem Gespür.
Nach einer „Freien Naturerfahrung“, die den Umfang eines ganzen Tages einnehmen kann bis hin zu ein- oder mehrtägigen Übergangsriten (Medicine Walk, Vision Quest), bringen die Teilnehmer eine Fülle von Eindrücken mit. Hier wird die Aufgabe der Begleitung besonders bedeutend: ein Feld zu schaffen, in dem das Erleben willkommen ist und wertschätzend gewürdigt werden kann.
Die inwendige Haltung
Grundlegend für naturtherapeutisches Arbeiten ist es, jeden Teilnehmenden individuell ein Stück zu begleiten auf dem Weg, der zu werden, der er ist. D.h. ihn in seinem Wesen zu bestärken und ihn seine Konzepte und Selbstbilder als das erkennen zu lassen, was sie sind, nämlich (nur) Ideen, Konstruktionen und Gedanken über sich selbst – das Selbstkonzept ist nicht das Selbst. Ausschlaggebend ist dabei die eigene innere Haltung, die wir in unserer Ausbildung zur Naturtherapeutin / zum Naturtherapeuten erleben und ständig weiter üben: eine bedingungslos wertschätzende Haltung, die einerseits einen tragfähigen und sicheren Rahmen bietet und andererseits ein Feld eröffnet aus präsenter Anteilnahme und offenem Interesse, um willkommen zu heißen, was immer auch geschehen ist. Aus dieser erlebensorientierten und phänomenologischen Grundhaltung heraus werden die Teilnehmerinnen unterstützt, Anteil zu nehmen an ihrem eigenen Erleben. Erleben ist wirklich, es wirkt. Anteilnehmen an dieser Wirklichkeit dient daher der Rückkehr zum Leben (vgl. Sachon 1999, S. 28).
Diese phänomenologische Arbeitsweise, die Wahrnehmung der Menschen an ihrem eigenen Erleben zu halten, erfordert seitens der Therapeuten eine Gleichzeitigkeit von innerer Leere und aufmerksamer Gespanntheit sowie eine gewisse Absichtslosigkeit im Sinne von: „You can lead a horse to the water, but you can’t make it drink“. Gefordert ist auch Verzicht auf Bewertung und Furchtlosigkeit vor dem, was die Wirklichkeit ans Licht bringt, was anerkannt werden will (vgl. Hellinger). Und es geht meiner Meinung nach um die Liebe zum Menschen.
Meiner Erfahrung nach, ist eine wertschätzende, offene und präsente Grundhaltung sehr entscheidend – je mehr ich diese übe und Menschen in dieser Haltung begegne, desto ehrlicher und wahrhaftiger wird alles was ich tue.
Jenseits von richtig und falsch
In dem Seminar „Naturerfahrung – Selbsterfahrung“ haben wir aus dieser Grundhaltung heraus die Übungen des Naturerlebens vorbereitet, die ein präsentes, offenes Schauen, Horchen und Staunen fördern (z.B. in der Übung „still hunting“). In den Phasen der Integration gelang es uns ein Feld zu bereiten, in dem zunehmend Vertrauen wuchs aus den persönlichen, häufig tiefen Begegnungen draußen zu berichten. Dabei bezaubert mich immer wieder das komplett unterschiedliche Erleben der Teilnehmenden … ein kleiner Mischwald im Mittelgebirge und „Geschichten“ aus unterschiedlichen Welten. Präzise erscheinen dabei die Lebensthemen und Lernprozesse, die bei jedem gerade im Vordergrund stehen, d.h. die sich für ihn selbst erst im Spiegel der Natur in deutlicher Weise in den Vordergrund drängen.
Und noch ein Phänomen: unsere Wertschätzung und phänomenologische Haltung nahmen im Feld der Gruppe Platz. Es entstand ein Gruppenfeld interessierter Offenheit. In diesem „staunenden Feld“ entwickelte die Gruppe sich mehr und mehr zu einer Gemeinschaft, die Anteil nahm am Erleben der anderen, die mit Dankbarkeit aufnahm, was andere aus ihrem innersten Erleben preisgaben. Ich war wirklich sehr berührt, dass innerhalb von 2 Tagen Verbundenheit und Faszination darüber entstanden war, wie unterstützend und wahrhaftig wir miteinander waren. Fazit: im präsenten, achtsamen Umgang miteinander kann wirklich einfühlsame Verbindung zwischen Menschen entstehen – jenseits von richtig und falsch.
Naturtherapie im (natur-)pädagogischen Kontext
Auf der Grundlage dieser Erfahrung und auch aus meinem Seminar „Selbsterfahrung im Spiegel der Natur: Medicine Walk für Frauen“ im Sommer 2002, kristallisiert sich mehr und mehr heraus, welche Zielsetzung mir auch für pädagogisches Arbeiten und insbesondere für naturpädagogische Angebote Herzensanliegen ist: Menschen über die Natur „draußen“ in Kontakt zu bringen mit ihrem eigenen inneren Erleben (der Natur „drinnen“), um in präsenter und wertschätzender Haltung sich selbst, der Natur und im gegenseitigen Miteinander von Herzen zu begegnen.
Daraufhin habe ich Elemente aus Naturpädagogik und Naturtherapie verknüpft und die einwöchige Fortbildung„Erlebensorientierte Naturbegegnung“ entwickelt. Im Herbst 2002 führte ich diese Fortbildung für die „Schule für Heilerziehungspflege“ in Uslar bei Göttingen durch, und mittlerweile wurde diese Fortbildung in die Ausbildung integriert.
Im Rahmen einer Projektwoche führte ich die Fortbildung für Schülerinnen und Schüler als Wahlpflichtfach durch. Die ersten beiden Tage fanden unter naturpädagogischen Gesichtspunkten statt: draußen in der freien Naturlandschaft in Berührung zu kommen mit den vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten, wie z.B. Wald, Bäume, Pflanzen oder die Welt der Krabbeltiere. Über verschiedene Zugänge wie Spiele, Geschichten und künstlerisches Gestalten mit und in der Natur sowie erlebnispädagogische, gruppendynamische Methoden entstand mehr und mehr Vertrauen im Kontakt mit Natur und viel Freude und Lachen im Miteinander. Auch die didaktisch-methodische Reflexion im Hinblick auf das heilpädagogische Arbeitsfeld gehörte dazu und förderte eine intensive Auseinandersetzung.
Aus dieser Situation heraus bestanden die nächsten Tage darin, ein Empfinden für die bereits vorgestellte naturtherapeutische Qualität des Naturerlebens kennen zu lernen. Ich begann mit der einführenden Übung in die naturtherapeutische Arbeit wie auch im Seminar „Naturerfahrung – Selbsterfahrung“: sich im Wald ein Plätzchen suchen, um dort für 10 Minuten allein inne zu halten, zu schauen und zu horchen, also zu erleben, was sich im Innen und Außen abspielt. Nachdem alle wieder im Kreis beisammen waren, berichteten alle von ihrem Erleben.
Lern- Raum Natur . . . nicht auswendig, sondern inwendig !
Eine der Teilnehmerinnen war erstaunt, verblüfft und erschrocken über das, was ihr passiert war: ihr wurde bewusst, dass sie es kaum aushalten konnte, für 10 Minuten allein im Wald zu sein und innezuhalten. 10 Minuten allein im Wald ohne eine Aufgabe brachten sie an ihre persönliche Grenze: Unruhe, Angst überfallen zu werden, ständiges Umschauen, Erschrecken wenn es irgendwo knackte, Umschauen nach den anderen Teilnehmern – endlos erscheinende 10 Minuten!
Die Integration war besonders für sie wunderbar. Sie wartete lange, ehe sie sich doch noch entschloss, dieses Erleben mitzuteilen. Als ich ihr mutiges Verhalten spiegelte, nämlich diese Übung auszuhalten und sich dabei ihren Gefühlen zu stellen, wandelte sich ihre eigene Wahrnehmung des ängstlichen Versagens hin zum aufrechteren „dazustehen wie es war“ – für mich sichtbar an ihrer veränderten Körperhaltung: sie richtete sich mehr und mehr auf.
Für mich zeigte sich deutlich, dass eine Verknüpfung von Naturpädagogik und Naturtherapie wirklich sinnvoll und fruchtbar ist. In nur wenigen Tagen fanden Menschen, die mit Natur bisher eher wenig am Hut hatten einen Zugang, untersuchten Spinnen und Pilze, entdeckten Freude an „Kinderspielen“ im Wald und traten daraufhin innig in Kontakt mit ihrem eigenen Erleben. Sie schätzten besonders die naturtherapeutische Arbeit als wertvoll für sich selbst und wie sie mir versicherten als sehr bedeutend für ihre Arbeitsfelder mit behinderten, autistischen oder verhaltensauffälligen Menschen. Am fünften Tag der Projektwoche präsentierten die Schülerinnen und Schüler den anderen Projektgruppen und der Schulleitung, was und wie sie die Inhalte für ihre Berufsfelder nutzen könnten. Ich war wirklich überwältigt, welchen tiefen Eindruck die Präsentation auf alle hinterließ.
Ein neues Konzept für die Sozial- und Heilpädagogik?
Ziel des gesamten Konzepts „Erlebensorientierte Naturbegegnung“ ist es, die Naturlandschaft als Freiraum zu entdecken, der besondere Lern- und Lebensqualität für sozial- und heilpädagogische Felder hat: Entwicklung, Entfaltung und Heilung können in besonderer Weise ermöglicht werden. Dem pädagogischen und therapeutischen Arbeiten in und mit der Natur kommt eine doppelte Bedeutung zu: auf der einen Seite ergibt sich eine methodische und reflektierte Arbeitsweise im Hinblick auf didaktisches Handeln, auf der anderen Seite ist ein prozessorientiertes Arbeiten erforderlich, das dem inneren Erleben der Menschen Rahmen und Raum geben kann, frei von Zweck und Ziel. So ergeben sich in dem Konzept Erfahrungsmöglichkeiten auf vier Ebenen: Naturbegegnung – Sich selbst erleben – Miteinander in wertschätzenden Kontakt kommen – Einbeziehen ins eigene Arbeitsfeld.
Insgesamt bedeutet Naturtherapie im Kontext von Naturpädagogik einen „Paradigmawechsel“ vom Vermitteln auf der Grundlage von Lernzielen hin zu einer prozessorientierten Begleitung und wertschätzenden „Menschenbegegnung“: Pädagogik und Therapie verstanden alsBegleitung von Wachstum und Wandel. In diesem Sinne weicht auch das naturpädagogische Ziel einer Verbesserung des Mensch-Natur-Verhältnisses dem (naturtherapeutischen) Ziel der Entwicklung und Heilung der Menschen selbst. Oder anders ausgedrückt: erst über die Heilung des Menschen, seiner inneren Natur, über das allmähliche Auflösen seiner Natur- und Selbstentfremdung, kann sich auch das Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur erst wirklich ändern. Von innen her ändern. Doch Veränderung ist nicht Ziel, und Heilung kann niemals Mittel zum Zweck sein, denn sobald es „verzweckt“ wird, wird’s auch „verzwickt“, denn wir wollen um unserer selbst willen gesehen und geliebt werden, nicht nur weil wir uns gut oder richtig oder naturschützend verhalten.
Naturtherapie im Kontext von Naturpädagogik bedeutet insgesamt auch einen Paradigmawechsel in der kompletten Art und Weise der Naturbegegnung: Wir müssen nicht extra versuchen, Situationen zu schaffen, die unsere Teilnehmer an Grenzen bringen. Sie stellen sich ganz von selbst ein und jeder findet seine persönlichen Grenzen! Manchmal reichen da 10 Minuten Innehalten im Wald! Jedenfalls geschieht oft nicht das, was wir wollen, aber dafür oft das, was ein Mensch braucht. Und meiner Erfahrung nach spüren Menschen auch intuitiv was sie brauchen und meine innere Gewissheit sagt, dass es etwas gibt in uns, das weiß wo es hin will. In diesem Vertrauen kann pädagogisches und therapeutisches Handeln zu einem prozessorientierten Begleiten werden und die zielgerichtete Vermittlung und Förderung kann einem offenen Lernfeld weichen.
„Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“
Das tiefe Empfinden und die heilsamen Begegnungen in und mit der Natur brauchen für die Integration in unsere Person ihren Widerschein in einer heilsamen Begegnung mit Menschen in einer tragfähigen, haltgebenden Gemeinschaft. Die Erfahrung mit unserem individuellen „Sosein“ von anderen Menschen angenommen und willkommen geheißen zu werden ist Ausdruck und Eindruck tiefster Verbundenheit. Für die urteilsfreie, wertschätzende Begegnung als Mensch gegenüber Menschen können wir wahrhaft von der Natur lernen. Wir erleben Natur auf unterschiedlichste Weise in allen Polaritäten und Facetten, doch immer ist sie so wie sie ist und will uns nicht anders haben als wir sind. Ob wir beglückt oder ärgerlich durch den Wald streifen, die Natur lässt uns so sein. „Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“ Wer würde diesem Satz von Friedrich Nietzsche wohl nicht zustimmen? Also: warum können wir Menschen einander nicht das geben, was die Natur uns ganz selbstverständlich gibt? Oder können wir? Wenn wir als Menschen diesen Umgang miteinander lernen könnten, also im wahrsten Sinne einander nicht in Meinung und Diagnose, sondern einander in „natürlicher“ Weise zu begegnen. Um Missverständnissen vorzubeugen: mit „wertfrei“ meine ich dabei nicht, dass wir unsere eigenen Meinungen, Werte oder Erwartungen ablegen und nur noch nett zueinander sind, nein. Es geht darum, die eigene Meinung und Werthaltung auf der einen Seite zu spüren und Wesen und Wert eines anderen Menschen auf der anderen Seite. Hier gelangen Achtung, Demut und Ehrfurcht, die wir in der Natur erleben können, in die menschliche Begegnung. Dann jedenfalls entsteht ein Raum, einander wirklich zu verstehen: zu sehen bevor wir bewerten, zu hören bevor wir reagieren (Hwosch), und damit die Möglichkeit einer Kommunikation von Seele zu Seele, von Herz zu Herz (vgl. Thich Nath Hanh).
Das Erleben in der Natur führt uns tief zu uns selbst und von da aus zurück zu den Menschen , ins Leben, in den Alltag, wenn der Fokus auf einer erlebensorientierten, phänomenologischen und präsenten Grundhaltung liegt. Hier eröffnet sich ein Raum für Entwicklung und Wachstum für jeden persönlich von dort wo er gerade steht und damit für eine neue Qualität im Miteinander. Die kleine Spinne im Wald führt mich also zu meinem eigenen „inwendigen“ Rhythmus.
Und wir können spüren lernen, worum es wirklich geht in unserem Leben. Dabei wird das Leben vielleicht nicht unkomplizierter, vielleicht weniger großartig, aber wir haben die Chance mehr und mehr zu spüren, was wirklich stimmig ist für uns selbst und unser Leben. Treffend drückt dies m.E. „Puh“ aus der Geschichte von „Puh der Bär“ aus: „Was machst Du eigentlich am allerliebsten von der Welt, Puh?“ – „Na ja“, sagte Puh, „am allerliebsten … “, und dann verstummte er wieder und musste erst einmal überlegen. Denn obgleich Honigschlecken wirklich eine feine Sache war, gab es doch kurz vor dem Schlecken einen Augenblick, der noch schöner war als das eigentliche Schlecken, aber er wusste nicht, wie man das nannte. Und dann dachte er daran, wie schön es war, mit Christoph Robin zusammenzusein, und wie nett, Ferkel in der Nähe zu haben, und als er das alles überdacht hatte, sagte er: „Am allerliebsten von der Welt mag ich, wenn Ferkel und ich dich besuchen und du sagst: ‚Wie wär’s mit einem kleinen Happen?‘ und ich sage: ‚Na ja, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, du vielleicht Ferkel?‘, und draußen ist so ein Tag voll Flimmern und Summen, und die Vögel singen.“ (aus: Hoff, Tao Te Puh, S. 104/105). Für mich wird das Leben jedenfalls in all dem Chaos gerade immer schöner. Und: „Was wir als schön erkennen, wird einst als Wahrheit uns aufgehen“ (Friedrich Schiller).
Verwendete Literatur:
Brooks, Charles V.W.: Erleben durch die Sinne, 1991
Dürckheim, Karlfried Graf: Hara. Die Erdmitte des Menschen, 2001
Hellinger, Bert. Einsicht durch Verzicht. Der phänomenologische Erkenntnisweg in der Psychotherapie (Aufsatz)
Hoff, Benjamin: Tao te Puh. 1984
Hwosch, Peter: And I trust. 2001 (Liedertext CD „And I trust“)
Kalff, Michael: Handbuch Natur- und Umweltpädagogik. 1997
Sachon, Wernher P.: Natur und Therapie. 1999
Sachon, Wernher, P.: Vision Quest: Das einsame Fasten in den Bergen. Ein Übergangs- und Initiationsritus in der Natur. 2002
Sachon, Wernher P.: Programm 2003
Thich Nath Hanh (versch. Werke)
Thoreau, Henry David: Aus den Tagebüchern (* S.40)
Petra Krüger
Hünstollenstr. 52
37136 Waake
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petra.krueger@naturtherapeut.de
Fortbildung: „Naturerfahrung – Selbsterfahrung“: Einführung in die Naturtherapie
Seminare zu: „Selbsterfahrung im Spiegel der Natur: Medicine Walk“
„Erlebensorientierte Naturbegegnung“: Weiterbildung für Sozial- und Heilpädagogik
Erschienen in E&L 3&4 2003