Überblick
1 Persönlicher Zugang zum Thema
2 Der Begriff „wild“
3 Die „Wildnis da draußen“ – gibt es sie wirklich?
4 Der phänomenologische Blick: Wirkung(en) von Wildnis auf Menschen
5 „Wildheit“ als Qualität – im Sein, im Menschen
6 Spuren zum Verfolgen
7 „Wildnis“: ein Gedicht
8 Literaturhinweise
„Life consists with wildness.
The most alive is the wildest.”
(Henry David Thoreau: Walking)
“ In wildness lies the preservation of the world.”
(Henry David Thoreau: Walking)
“Wildness is not just the preservation of the world, it is the world.”
(Gary Snyder: The Practice of the Wild)
1 Persönlicher Zugang zum Thema
Wie komme ich dazu mich mit dem Thema Wildnis zu befassen? Von entscheidender Bedeutung hierfür sind meine Trekkingtouren, die ich seit 1990 in Norwegen, Island und insbesondere Tasmanien unternommen habe. Diese ausgedehnten Wanderungen, die ich allein und gemeinsam mit meiner Freundin/Frau unternommen habe, haben meine vorherigen Erfahrungen von Natur relativiert, neue Blickwinkel eröffnet, Sehnsucht geweckt, mich inspiriert und zuweilen tief berührt. Es waren für mich grundlegende, ursprüngliche, existenzielle Erfahrungen. Doch davon später mehr. Gleichzeitig habe ich in Tasmanien – wo etwa ein Viertel der Landesfläche als National Parks geschützt ist! – erlebt, wie Wildnis im Dienste des Tourismus vermarktet wird und in nicht geschützten Gebieten bis heute alte Wälder rücksichtslos abgeholzt werden und die Tierwelt vergiftet wird.
Eine andere Quelle der Inspiration liegt für mich im Nationalpark Bayerischer Wald, den ich währen eines Praktikums kennen und lieben gelernt habe. Dort ist für mich „mitteleuropäische Wildnis“ am deutlichsten spürbar.
Ich widme diese Arbeit deshalb den wilden Plätzen, die mir vertraut geworden sind und die mir sehr viel bedeuten.
2 Der Begriff “wild”
„The word wild is like a gray fox trotting off through the forest,
ducking behind bushes, going in and out of sight.“
(Gary Snyder)
Das Wort „wild“ ist gemeingermanisch (existiert in allen germanischen Sprachen), seine Herkunft ist unsicher. Eventuell ist es verwandt mit „Wald“, dann bedeutete es vielleicht ursprünglich „im Wald wachsend, nicht angebaut“. Gegenbegriffe sind “zahm”, “kultiviert”, “gebändigt”, „zivilisiert“.
Im Englischen bedeutet “wild” bei
- animals: “not tame, undomesticated, unruly” bzw. free agents, each with its own endowments, living within natural systems
- plants: “not cultivated” bzw. self propagating, self-maintaining, flourishing in accord with innate qualities
- land: “uninhabited, uncultivated” bzw. a place where the original and potential vegetation and fauna are intact and in full interaction and the landforms are entirely the result of nonhuman forces
- individuals: “unrestrained, insubordinate, licentious, dissolute, loose” bzw. unintimidated, self-reliant, independent, “proud and free”
- behaviour: fiercely resisting any oppression, confinement or exploitation; artless, free, spontaneous, unconditioned, physical, openly sexual, ecstatic (nach Gary Snyder)
Gary Snyder sieht im Bedeutungsgehalt des Wortes „wild“ ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem was die Chinesen „Dao“ nennen:
„eluding analysis, beyond categories, self-organizing, self-informing, playful, surprising, impermanent, insubstantial, independent, complete, orderly, unmediated, freely manifesting, self-authenticating, self-willed, complex, quite simple.“
Unter „Wild“ versteht man wilde, vor allem jagdbare Tiere (vgl. auch „wildern“). „Wildnis“ und „Wildheit“ (so wie auch verwildern, Wildbret, Wildfang u.a.) sind Ableitungen vom Adjektiv „wild“. „Wildnis“ ist ursprünglich wahrscheinlich die „Wohnstätte des Wilds“
Das Wort „wild“ ist weiterhin auch verwandt mit „ Willen “:
„Die wilde Kreatur gilt als autonom und ungezähmt und handelt nach eigenem Willen. Wildnis ist die ‘funktionierende Anarchie’, in der ohne äußere Kontrolle das Leben fließt“ (Sylvia Koch/Geseko v. Lüpke)
3 Die „Wildnis da draußen“ – gibt es sie wirklich?
Definitionen und Assoziationen von Wildnis
Die Vorstellung von Wildnis als „von Menschenhand unberührte, reine Natur“ und damit als positiv besetztes Konzept ist noch recht jungen Datums und kann bis in die Romantik zurückverfolgt werden. Davor war der Begriff in unserem westlichen Kulturkreis ausschließlich mit negativen Assoziationen belegt (und dies ist bis heute – gerade in Deutschland – deutlich spürbar).
Max Oelschlaeger verfolgt das Konzept von „Natur“ und „Wildnis“ durch die Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis ins 20. Jahrhundert. Für die Menschen in der Steinzeit (im Paläolithikum) ist die Natur (draußen) ihr Zuhause. Der (Natur-)Raum, in dem sie sich bewegen, besteht aus benannten Orten und Plätzen. Sie hatten weder eine Vorstellung von einer Wildnis, der es zu entfliehen galt noch von einer Zivilisation, die sie suchen wollten. Das bedeutet: Für diese jagenden und sammelnden Kulturen existiert die Trennung Wildnis – Kultur/Zivilisation nicht, es existieren Grenzen zwischen verschiedenen Stammesgebieten.
Mit den Anfängen der Landwirtschaft beginnen die Menschen die Natur zu verändern. Es entstehen Grenzen und Abgrenzungen: Feld und Wald; Ernte und „Unkraut“, Naturraum und Kulturraum. Dies ist ein gradueller Prozess (auch manche Jagd-Sammel-Kulturen verändern ihren Lebensraum, z.B. durch gezieltes Abbrennen der Vegetation).
In unserer abendländischen Kulturtradition, die durch die griechische Antike, die jüdische und christliche Religion,, den Protestantismus, die Renaissance, die Aufklärung, die industrielle und naturwissenschaftlich-technische Revolution geprägt ist, hat sich die Vorstellung von Natur und das Selbstbild des Menschen in gut zwei Jahrtausenden weiter verändert. In diesem Weltbild ist der Mensch Mittelpunkt der Welt, der Natur und allen (anderen) Geschöpfen überlegen, die Natur wird gar zur „Maschine“. Ab dem 18. Jahrhundert entwickelt sich in Europa eine Gegenbewegung zur Aufklärung. Romantische Dichter wie z.B. Rousseau („Zurück zur Natur!“), Wordsworth und Coleridge sind hier zu nennen, im Bereich der Philosphie etwa Spinoza und Schopenhauer.
Die „moderne“ Wildnisbewegung hat ihre Wurzeln in den USA: Henry David Thoreau, John Muir und Aldo Leopold sind die bekanntesten Namen. Im 19. Jahrhundert wurde in den USA der erste Nationalpark gegründet und die Idee Wildnis vor dem Menschen zu schützen hat sich seither in alle Welt verbreitet.
Wenn man Wildnis als vom Menschen unbeeinflusste Landschaft versteht, kommt man sehr schnell zur Erkenntnis, dass es dies heute nicht mehr gibt. Doch schaut man genauer hin, gibt es sie (mit Ausnahme der Antarktis) seit Tausenden von Jahren schon nicht mehr: “There has been no wilderness without some kind of human presence for several hundred thousand years” (Gary Snyder). Menschen lebten, seit sie sich über die Erde ausgebreitet haben, in (fast) allen möglichen Lebensräumen – und die Vorstellung von „Wildnis“ ist vielen indigenen Völkern bis heute fremd. “We did not think of the great open plains, the beautiful rolling hills, and winding streams with tangled growth, as “wild”. Only to the white man was nature a ´wilderness`” (Luther Standing Bear of the Oglala Sioux). Norbert Suchanek weist darauf hin, dass der Begriff “Wildnis” mit der Vorstellung der „terra nullius“ (Land, das niemandem gehört, das von niemandem beansprucht wird und das man sich deshalb aneignen darf) assoziiert wurde, mit der die europäischen Kolonialisten ihre Eroberung Amerikas und Australiens zu legitimieren versuchten. „Die Repräsentanten indigener Völker sind bis heute auf das Wort ´Wildnis` nicht gut zu sprechen“ (Norbert Suchanek) und bis heute kämpfen sie überall auf der Welt um das Recht, ihre traditionellen Gebiete zu nutzen – und werden dabei mitunter aus Nationalparken ausgesperrt, da dort keine Menschen leben dürfen. Suchanek spricht vom „Mythos Wildnis“ oder gar von der „Wildnis-Lüge“ und davon wie der Begriff heute statt im Dienste des Kolonialismus im Dienst des Naturschutzes und der Tourismusbranche („Urlaubssehnsucht Wildnis“) steht, was für die betroffenen Völker letztlich keinen großen Unterschied macht. Auch die Tasmanian Wilderness World Heritage Area existiert ohne Menschen nur deshalb, weil die Ureinwohner Tasmaniens von den weißen Siedlern im 19. Jahrhundert brutal ausgerottet wurden. Suchanek kommt zum Schluss, dass es „Wildnis“ letztlich nicht gibt.
Die Definition der „Wildnis draußen“ wird also zumindest unbestimmt und vage: „Wie gering muss der Einfluss des Menschen auf einen Ort sein, damit dieser als Wildnis gilt … Wie lange muss der Mensch abwesend sein?“ (Norbert Suchanek). Und so finden sich in zeitgenössischen Definitionsversuchen häufig Begriffe, die auf den Mangel an absoluten Kriterien deuten, wie z.B.
Jamie Kirkpatrick: “Land that is largely undisturbed by agriculture or industry and remote from mechanical access”
Sylvia Koch-Weser/Geseko v. Lüpke „Ein Stück Natur, dem die Eingriffe der Zivilisation nicht oder nur wenig anzusehen sind“ (anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass dem Blickwinkel des Menschen eine zentrale Bedeutung zukommt)
Bei der Beschreibung von Wildnisgebieten und bei Definitionsversuchen finden sich in der Literatur oft negierte Begriffe, so z.B. „undisturbed“, „inviolate“, „unspoilt“, „unmarred“, „remote”, “unmodified”, „unnamed places“. Sie wird also durch das definiert was sie nicht ist, vom Blickwinkel der menschlichen Kultur und der vom Menschen deutlich und drastisch veränderten Landschaft Demgegenüber stehen positive (nicht-negierte) Begriffe, z.B. “intact, whole”, “integrity of land”, “raw and naked land”, “our links where we come from”, “variety, mystery and wonder”, “the primal face of our planet”, “the original face” (Chris Bell).
Gary Snyder beschreibt Wildnis wie folgt: “A large area of wild land, with original vegetation and wildlife, ranging from dense jungle or rainforest to arctic or alpine “white wilderness” – a wasteland, as an area unused ore useless for agriculture or pasture – a place of danger and difficulty: where you take your own chances, depend on your own skills, and do not count on rescue.” Und: “To speak of wilderness is to speak of wholeness.”
Margit Merten formuliert: “Ursprüngliche Natur, also Wildnis, ist kein Zustand, ist niemals statisch …. Wildnis ist die Kraft der Natur zum Wandel“ (vgl. „Natur Natur sein lassen“ – Motto von Nationalparken in Deutschland; das bedeutet Zulassen der natürlichen Dynamik, „Prozess-Schutz“)
Schon seit Thoreau stellen Menschen aber auch den Bezug her von der “großen Wildnis” zur “Wildnis um die Ecke”: “Ich bemerke, dass der Landkreis von Middlesex nicht nur aus Gärten, bebauten Feldern und Landwirtschaft besteht, sondern dass es Orte gibt, die so ursprünglich und wild sind wie vor tausend Jahren; die dem Pflug, der Axt, der Sense und der Preiselbeerharke entkommen sind, kleine Oasen der Wildnis in der Wüste unserer Zivilisation … Ich glaube, dass ein solches Stück des Planeten so etwas wie eine Persönlichkeit hat, und empfinde beinahe Ehrfurcht vor ihm“ (Henry David Thoreau/Tagebücher). Und nochmals Gary Snyder: „Wildness is not limited to the 2 percent formal wilderness areas. Shifting scales, it is everywhere.“
Des Weiteren besteht ein Zusammenhang zwischen “Wildnis” und “heiligen Orten”: Alle heiligen Orte waren früher auch wilde Orte. „For a people of an old culture, all their mutually owned territory holds numinous life and spirit. Certain places are perceived to be of high spiritual density … These places are gates through which we can … more easily be touched by a larger-than-human, larger-than-personal view” (Gary Snyder). Oft berichten Menschen nach einem Aufenthalt in einem Wildnisgebiet von dieser Qualität: “The lake and the hills were burning with spiritual energy … the land itself was quietly watchful and alive … reservoirs of spiritual energy, an energy that radiates out across the entire planet” (Martin Hawes).
Der Mensch, der Wildnis erlebt und beschreibt, kommt also immer mehr mit in den Blickpunkt. „Wildnis“ weckt verschiedenste Assoziationen und Emotionen. Sie hat ein „doppeltes Gesicht … einerseits gefährliche, unberechenbare Natur, vor der man sich schützen musste, andererseits heiliger Raum und Wohnort der Götter…“ (Koch-Weser/v. Lüpke). “Wilderness has implied chaos, eros, the unknown, realms of taboo, the habitat of both the ecstatic and the demonic … It is a place of archetypal power, teaching, and challenge” (Gary Snyder
Und manche formulieren dann auch radikal neu:
„Wildness is not just a state of nature but a state of mind“ (John Tallmadge) oder
„Wildnis ist eine Denkweise“ (Hubert Weinzierl, nach Margit Merten) oder
„The only true wilderness exists between the ears of a greenie“ (Aufkleber mit politischem Statement auf einem Auto an der Westküste Tasmaniens)
Zusammenfassung
Der Begriff „Wildnis“ ist ein (nicht unproblematischer) Begriff der modernen westlichen Kultur und an diese geknüpft. „Kultur braucht Wildnis als Gegenpol, um sich zu definieren“ – und umgekehrt wird Wildnis häufig in Abgrenzung zur Kultur definiert.
Vom Menschen unbeeinflusste Landschaft in Reinform gibt es heute nicht mehr, es gibt in unterschiedlichem Maße vom Menschen veränderte Landschaft, es gibt sinnlich wahrnehmbare Eingriffe/Veränderungen und sinnlich nicht wahrnehmbare, es gibt deutliche, krasse Eingriffe und leichte …
Wer den Begriff „objektiv“ zu definieren versucht, verwickelt sich sehr schnell in Widersprüche oder wird vage. Diese Problematik wird im Bereich des Naturschutzes inzwischen auch gesehen. Schilder in Tasmanien weisen z.B. darauf hin, dass „Wildnis“ für jede/n etwas anderes bedeutet.
Die meinem Empfinden nach treffendste Bestimmung der Begriffe „Natur“, „Welt“ und „wild“ habe ich bei Gary Snyder gefunden:
“Wilderness is a place where the wild potential is fully expressed.”
„The world is nature, and in the long run inevitably wild, because the wild, as the process and essence of nature, is also an ordering of impermanence.“
Das heißt Wildheit ist eine Qualität der Natur und damit der Welt – oder auch im Sein – und besonders ausgeprägt erleben viele Menschen diese in ursprünglichen Naturlandschaften. Ich nenne diese manchmal „the real world“.
Im nächsten Schritt werde ich mich dem Phänomen über das menschliche Erleben zu nähern versuchen: Wie erlebe ich Wildnis? Wie erleben andere Menschen Wildnis? Was bedeutet Wildnis für mich?
“Nature is then subject, they say, of science. Nature can be deeply probed, as in microbiology. The wild is not to be made subject or object in this manner; to be approached it must be admitted from within, as a quality intrinsic to who we are.” (Gary Snyder)
4 Der phänomenologische Blick: Wirkung(en) von Wildnis auf Menschen
Eine sehr eindrückliche Beschreibung eines Wildnisaufenthaltes findet sich bei Thoreau. Sie stammt aus „The Maine Woods“ und formuliert seine Eindrücke und Gedanken während einer Wanderung zum Berg „Ktaadn“, mit 1.600 m der höchste Berg in Maine. Seine Empfindungen sind anders als diejenigen im heimatlichen Walden, von dem aus er zu der Wanderung aufgebrochen ist:
„Perhaps I most fully realized that this was primeval, untamed and forever untameable Nature, or whatever men call it, while coming down this part of the mountain … And yet we have not seen pure Nature, unless we have seen her thus vast, and drear, and inhuman, though in the midst of cities. Nature was here something savage and awful, though beautiful. I looked with awe at the ground I trod on, to see what the Powers had made there, the form and fashion and material of their work. This was that Earth of which we have heard made out of Chaos and Old Nights. Here was no man’s garden, but the unhandseled globe. It was not lawn, nor pasture, nor mead, nor woodland, nor lea, nor arable, nor waste-land. It was the fresh and natural surface of the planet Earth, as it was made forever and ever … Man was not to be associated with it. It was Matter, vast, terrific … There was clearly felt the presence of a force not bound to be kind to man … Think of our life in nature, – daily to be shown matter, to come in contact with it, – rocks, trees, wind on our cheeks! the solid earth! the actual world! the common sense! Contact! Contact! Who are we? where are we?“
Im Folgenden kommen verschiedene weitere Autoren selbst zu Wort, überwiegend beschreiben sie eigene Erfahrungen in der Wildnis:
“Emotional experience different from that created by an arboretum … Sense of oneness … Spiritual value“ (Jamie Kirkpatrick)
“Source of inspiration and joy … Intangible truths that lie locked away in wildness … The inherent urge to reach out and touch life” (Chris Bell)
“Encounters of this intensity are rare outside the wilderness … The very wildness of wilderness generates a spiritual field that connects us with the source from which all life evolved” (Marin Hawes)
“A celebration of life itself” (Tracey Diggins)
“The trails I made led outward into the hills and swamps, but they led inwards also … In time the two became one in my mind” (John Haines)
„ …the strong drink of wilderness; we need such tonics to take us out of ourselves” (John Tallmadge)
„Die zivilisatorische Schicht, die uns von der Wildnis trennt, ist nicht dicker als drei Tage … die Wirkung der Wildnis auf den Menschen als ´religiöse Erfahrung`“ (Robert Greenway)
„Wer länger in der Wildnis bleibt, träumt anders, denkt anders, nimmt anders wahr … Ausschluss aus der Zivilisation löst offensichtlich sofort lebensfeindliche Assoziationen aus“ (wilde Tiere, Naturgewalten) (Sylvia Koch-Weser/Geseko v. Lüpke)
„Die Heilung, die mir der Aufenthalt in der Wildnis bringt, beruht auf der Gelegenheit (…) zu meiner animalischen, instinkthaften Seinsweise zurückzukehren. Nach einer solchen Erfahrung fühle ich mich wieder hergestellt.“ (J. H. Wheelwright)
Und zuletzt wieder Gary Snyder:
“The wilderness pilgrim’s step-by-step breath-by-breath walk up a trail, into those snowfields, carrying all on the back, is so ancient a set of gestures as to bring a profound sense of body-mind joy. Not just backpacking, of course. The same happens to those who sail in the ocean, kayak fjords or rivers, tend a garden, peel garlic, even sit on a meditation cushion. The point is to make intimate contact with the real world, real self.”
Und ich selbst? Wie erlebe ich wilde Landschaften?
…. manche machen mich neugierig, wecken Interesse, Lust mich dorthin (“hinein“) zu begeben; andere wecken eher Angst … wecken Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Einfachheit: mein Platz als Mensch im Kosmos … beruhigende Wirkung: es ist gut so wie es ist; ich Mensch muss die Welt nicht verändern, „besser“ machen (oder überhaupt so viel machen), ich darf sie so nehmen wie sie ist … Erleichterung: es gibt sie, sie ist noch da, die Welt wie sie ursprünglich ist – und sie ist die eigentliche Welt („the real world“), die nicht auf den Menschen bezogene Welt … Bedeutung von Gefahren: Wetter (Sturm, Regen), Waldbrand, Schlangen, Hypothermie, Verletzungen in abgelegener Gegend …
Wie erlebe ich mich dabei?
lebendig – körperlich: schmerzende Beine und Rücken, müde, mit neuer Energie am nächsten Morgen, „smelly“ … – manchmal stark und manchmal schwach, manchmal ausdauernd und manchmal schlapp – klein, ohnmächtig gegen Gewalten der Natur bzw. die Umgebung, auf eine realistische Größe gebracht, demütig
Zu wem werde ich dabei?
zum Menschen – zum Teil der lebendigen Welt – zum Nomaden – zum Gefährten beim Wandern – zum Explorer – zum Musiker – zu einem, der mit dem Erlebten in die Menschenwelt zurückkehrt
Wie sieht die Welt dabei aus?
echt, lebendig – gleichgültig – gut – bedrohlich, ängstigend – zuweilen unglaublich schön
Für viele Menschen (mich eingeschlossen) ist das Erleben von Wildnis ein ganz besonderes – es ist nicht einfach dasselbe wie allgemein das Erleben von Natur. Anders formuliert: Das Selbst-Erleben des Menschen in der Wildnis ist ein ganz besonderes. Es ist für viele Menschen eine sehr persönliche, eine grundlegende und intensive Erfahrung. Oft beschreiben sie diese als religiös, spirituell, heilsam, Sinn für das Leben stiftend. Ängste und Gefahren gehören unmittelbar dazu und werden nicht ausgeklammert. Es ist die Begegnung mit der wirklichen Welt („the real world“) und mit mir selbst, wie ich wirklich bin, in meiner wirklichen Größe bzw. Kleinheit als Mensch.
5 Wildheit als Qualität – im Sein, im Menschen
Wenn “Wildheit” bzw. “das Wilde” eine Qualität ist, die im Sein ist – wenn Wildnis oder wilde Natur “reine, eigentliche Natur” ist, dann liegt der Schluss auf der Hand, dass die Qualität “wild” auch im Menschen als Naturwesen existiert. Wo findet sich “das Wilde” in uns? Warum tut uns diese Qualität so gut und macht uns gleichzeitig Angst?
Die Entfremdung des Menschen von der Natur bedeutet auch die Entfremdung von seinem eigenen Natur-Sein – und er trägt sie mit sich, wenn er sich in die “Wildnis draußen” begibt:
“Living in cities in isolation from the wilderness separates us from our wild mind and deprives us of identity and meaning ….The separateness we feel need not just be in a geographical sense. Of far greater consequence is the separation we feel from wilderness in a spiritual sense. It is possible to be in the remotest, wildest place on earth and still feel a separation from the wilderness …We have developed our ´rational` side and lost touch with our ´primitive nature`” (Tracey Diggins)
„Je mehr Naturbeherrschung, je weniger konkrete Wildnis, desto größer der Wunsch, ein Stück Wildheit und Wildnis wieder zurückzugewinnen … Die verlorene Wildheit und Wildnis als Objekt der Begierde von überzivilisierten, der Natur entwöhnten Menschen, die ihre psychische Vitalität wiedergewinnen wollen? Wildnis als Projektionsfläche für das ungelebte Leben gestresster Opfer unserer Beschleunigungsgesellschaft?“ (Beate Seitz-Weinzierl)
“Es ist umsonst, wenn wir von einer Wildnis träumen, die in der Ferne liegt. So etwas gibt es nicht. Der Sumpf in unserem Kopf und Bauch, die Urkraft der Natur in uns, das ist es, was uns diesen Traum eingibt.“ (Henry David Thoreau: Aus den Tagebüchern)
Dass “wild” auch als Attribut von Menschen und ihrem Verhalten gebraucht wird, ist die ganze Zeit bereits immer wieder angeklungen und soll nochmals explizit herausgestellt werden. Hier liegt auch ein möglicher Ansatzpunkt für eine naturtherapeutische Arbeit mit dieser Qualität.
“Der Sumpf in Kopf und Bauch unterscheidet sich kaum mehr vom Matsch, den Zecken und Insekten der Außenwelt … Die wilde Natur, die wir in der äußeren Welt zerstören und in Reservate einzäunen, spiegelt sich in der Zähmung der eigenen Wildheit … Was da ruft, ist die eigene Wildheit” (Sylvia Koch-Weser/Geseko v. Lüpke).
“Wir alle sind von einer Sehnsucht nach wilder Ursprünglichkeit erfüllt …. Ein Schatten der Wilden Frau verfolgt uns bei Tag und auch bei Nacht. Wo wir auch hingehen, ein Schatten trottet hinter uns her – und immer einer auf vier Beinen“ (Clarissa Pinkola Estés).
Das Wilde …
… im Körperlichen
“Do you really believe you are an animal? … Our bodies are wild … It is to a great extent self-regulating, it is a life of its own (Gary Snyder).
… im Seelischen
„Und auch die (eigene Wildheit) steht für das Unbekannte, Chaotische, Ungezähmte. Da werden Ängste wach, die Kontrolle zu verlieren, verrückt zu werden, Ängste vor der Macht des Unbewussten“ (Sylvia Koch-Weser/Geseko v. Lüpke).
“The depths of mind, the unconscious, are our inner wilderness areas” (Gary Snyder).
“Das Wilde – die Wildheit und die Wildnis – (ist) eine Chiffre für das anhaltende Kontrollproblem des modernen Menschen … Es ist bemerkenswert, dass Freud das Verhältnis zwischen Es und Ich wiederholt mit Sinnbildern aus dem Bereich der Domestizierung (Ross und Reiter), der Flurbereinigung (Kanalisierung eines reißenden (Libido)Stromes und der Landgewinnung beschreibt: In seinem berühmtesten Vergleich versinnbildlicht er das Es als sumpfiges, morastiges, durchnässtes Gebiet, das erst durch die Ich-Entwicklung urbar wird“ (Rolf Haubl).
„Allerdings ist die Erfahrung der wilden äußeren Natur dabei nur eine Form, die Zivilisation zu kontrastieren. Kontrasterfahrungen bieten seit jeher auch die rituellen Verwilderungen der Sitten während karnevalesker Sitten“ (Rolf Haubl).
„Die Konfrontation mit unserer Triebnatur oder Tiernatur kann eine Reise ins ´innere Ausland` (Sigmund Freud) werden, die uns zunächst befremdlich und abgründig erscheint. … Die Chance ist dabei (..): Wenn wir uns mit den dunklen Schatten-Seiten unserer Persönlichkeit versöhnen, können uns ganz neue Kräfte zuwachsen, die mit ihrer vitalisierenden Wirkung das Leben bereichern“ (Beate Seitz-Weinzierl).
Für Clarissa Pinkola Estés steht Wildheit für die Instinkte („Instinktnatur“), das Spontane, Schöpferische. Sie assoziiert es mit dem „Selbst“ – im Gegensatz zu anerzogenen Rollen, das heißt dem Erworbenen, Konditionierten, dem Charakterlichen.
… im Geistigen
“I get a sense that the wild mind is the gap between my thoughts” (Tracey Diggins) – d.h. das Wilde als das Intuitive, das Nicht-Logische
Was die Qualität „Wildheit“ im Menschen betrifft, so wird sie auch verkörpert in den Archetypen des Wilden Mannes und der Wilden Frau. In Mythen und Märchen finden sich viele Beispiele für diese Gestalten. Robert Bly und Clarissa Pinkola Estés untersuchen diese in ihren Büchern. Estés nennt den Archetyp der Wilden Frau „Wolfsfrau“ – ihr Buch ist ein Bestseller. Bly verfolgt nach einer Interpretation des Grimm’schen Märchens „Der Eisenhans“ den Wilden Mann in der Geschichte zurück bis zum „Herren der Tiere“ oder „Meister der Jagd“, wie er in steinzeitlichen Kulturen auf allen Kontinenten vorkommt. Später in der Geschichte manifestiert sich dieser Archetyp beispielsweise in Gestalten wie Pan, Dionysos, Shiva, Esau und Johannes dem Täufer. Der Wilde Mann empfindet auch „ein wirklich freundschaftliches Gefühl gegenüber der Wildheit in der Natur“. Er „ist der männliche Beschützer der Erde“ (Bly)
Über Mythen und Märchen ist also ebenfalls ein Zugang zu der Qualität des Wilden im Menschen möglich. Doch wie Bly zu Recht schreibt: „Das Ziel ist nicht, der Wilde Mann zu sein, sondern mit dem Wilden Mann Kontakt zu haben“.
6 Spuren zum Weiterverfolgen
„I for one will keep working for wildness day by day” (Gary Snyder)
Wildnisaufenthalte
“Dies bist du. Du lebst unter deinem Volk, aber manchmal musst du hinaus in den Busch, ganz allein. Du wanderst den ganzen Tag und die ganze Nacht. Du schläfst unter den Bäumen wie der Impala-Bock. Du gehst stets dorthin, wohin dein Gefühl dich leitet, wohin deine Geister dich führen. Wenn du zu deinem Volk zurückkehrst, dann fragt es dich, warum du ganz allein in die Wildnis gehst. Es glaubt, dass du verrückt bist. Aber ich weiß, warum du das tust – ich tue es auch. Du gehst, um zu lernen, indem du in den wilden Gegenden, den Bergen, der Wüste lebst. Du wirst dies tun, solange du lebst. Du wirst unter deinem Volk leben, dann wirst du es verlassen, um allein im Busch mit deinen Geistern umherzustreifen. Dies ist dein Lebensweg: Was du lernst ist das, was dich die Geister lehren. Dies ist der Weg.” (aus H. P. Dürr: Traumzeit)
Mir ist es wichtig, mich von Zeit zu Zeit in die “Wildnis draußen” zu begeben. Dies sind für mich Zeiten der Rückbesinnung, der Rückbindung an die “Welt wie sie ist” (“the real world”), Zeiten des Perspektivwechsels, der Inspiration. Ich finde meinen Platz als Mensch im Kosmos neu, spüre Sinn. Zuweilen weist dieses Erleben Ähnlichkeiten zum Erleben während einer Vision Quest auf – auch wenn sie nicht in deren konzentrierter Form und deren klar gestaltetem Rahmen (einschließlich Vor- und Nachbereitung und der verbindenden menschlichen Gemeinschaft der Mit-Quester und Leiter) stattfinden.
Aber ich lebe nicht ständig in der Wildnis draußen und mein Platz im Alltag ist ein anderer. Ich lebe in der Kulturwelt der Menschen, in der menschlichen Gemeinschaft – und das ist gut und in Ordnung. Mein Wunsch und Ziel ist es, diese Welten in Verbindung zu bringen – in mir als Person. Werde ich so zu einem Wanderer zwischen den Welten?
“For the wilderness to have any chance at all, we must bring something of it back with us when we return from our infrequent visits. We must learn to hold the essence of wilderness in our hearts and minds so that even in our city based lives we can experience wilderness as if we were there in its midst. We must hold it close, we must cherish it and we must honour it through our commitment to work for its protection” (Tracey Diggins.)
Gary Snyder spricht von Lektionen, die die Wildnis einen lehren kann, wenn man sich mit der entsprechenden Einstellung dort aufhält: “We must try to live without causing unnecessary harm, not just to fellow humans but to all beings …There will be enough pain in the world as it is. Such are the lessons of the wild.”
Die Entdeckung der „Wildnis vor der Haustür“
Natürliche Dynamik findet nicht nur im Großen statt: Die „wilde Natur im Alltag“ kann um’s Eck der Wohnung“ entdeckt werden: John Tallmadge beschreibt in seinem Aufsatz „A Matter of Scale“ wie er nach seinem Umzug von Minnesota nach Ohio durch seine Kinder, die voller Begeisterung durch die Wiesen streifen, gelernt hat, einen anderen Blickwinkel einzunehmen und das Wilde im Kleinen zu entdecken (vgl. den Kinofilm „Mikrokosmos Natur“): Vögel, Insekten, Tiere im Boden und im verrottenden Holz. Dies stellt einen Ausweg aus dem Dilemma „Wildnis oder Zivilisation“ dar. Kinder haben diese Haltung von Natur aus: Neugier, Interesse, Offenheit, Staunen. Erwachsene benötigen für den Perspektivenwechsel „commitment“ (Einsatz, Engagement) und Konzentration. „To connect the places we inhabit with those we admire… such is the challenge and hope of an urban practice of the wild.”
Vom Entdecken zum Handeln: Dies spiegelt sich auch in aktuellen Diskussionen darüber wieder, wie Naturschutz sinnvollerweise betrieben wird. Es genügt nicht, lediglich Schutzgebiete auszuweisen und vom Rest der Fläche abzugrenzen (und den Menschen möglichst daraus fernzuhalten). Das Ziel eines „Rewilding“ – Verwilderung wird nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in den USA diskutiert.
Der BUND hat folgende Kampagne gestartet: auf 5 % der Landesfläche Deutschlands soll langfristig Wildnis entstehen. „Die Zielsetzung ist, dass der Mensch nicht komplett die ganze Welt (…) nach seinen Zielvorstellungen beeinflusst, sondern dass sich die natürliche Mitwelt zumindest in Teilen von selbst, ungeplant entwickeln kann.“ Dies fängt im Kleinen an: Im Zulassen einer „wilden Ecke“ im eigenen Garten, im Zulassen von spontaner Vegetation, im Tolerieren der „kleinen wilden Tiere“, die unser Leben begleiten (der Spinnen, Fliegen, etc.), da wo sie uns nicht wirklich stören, im bewussten Unterlassen und Loslassen von der Zwanghaftigkeit, alles nach unseren Vorstellungen zu gestalten und zu kontrollieren.
Die (Wieder-)Entdeckung der „Wildheit in uns“
„Die Entdeckung der Wildnis in uns braucht Mut zum Rückzug von überkommenen Denkweisen, Mut zur eigenen Entwicklung zum seelischen Wachstum. Wildnis im Kopf heißt, Dynamik im Denken zulassen, Prozessschutz für die Weiterentwicklung von Ideen, die Kontrolle durch die Ratio aufzugeben und der eigenen Intuition zu trauen … Wildnis bedeutet Vertrauen haben in das Prinzip der schöpferischen Kraft“ (Beate Seitz-Weinzierl).
“To get to the gap between our thoughts we have to face our greatest fears and really feel the pain again and again. It’s like following a bearing in remote trackless country” (Tracey Diggins).
„Das Akzeptieren von Wildnis bedeutet, sich auf permanente Veränderungen einzulassen, statt sich in einem festen, statischen Weltbild auszuruhen … Dynamik ist ein Grundprinzip des Lebens“ (Dr. Martin Held).
Es geht also um ein bewusstes Nichts-Tun, eine Offenheit für das was kommt und aus sich heraus entstehen will anstatt von Kontrolle, Beherrschung, planmäßigem Handeln – dies gilt für den Schutz der Wildnis draußen ebenso wie für die Entdeckung der Qualität des Wilden in uns.
Also: Das Unbekannte, nicht planmäßige, Unkontrollierte und Unkontrollierbare zulassen – im Vertrauen auf das Leben selbst, darauf, dass die Welt, so wie sie ist, gut ist, in Ordnung, auch dass ich wie ich bin okay bin.
Nach Clarissa Pinkola Estés geht es darum sich mit der eigenen Instinktnatur zu verbinden – Erzählungen (Mythen und Märchen) können dies unterstützen. In ihnen repräsentieren oft (wilde) Tiere wie der Wolf oder der Fuchs diese Qualität.
Dies ist ein Weg, ein Übungsweg. Mit den Worten von Gary Snyder:
“We live within the nets of inorganic and biological processes that nourish everything, bumping down underground rivers or glinting as spiderwebs in the sky. Life and matter at play, chilly and rough, hairy and tasty. This is of a larger order than the little enclaves of provisional orderliness that we call ways. It is the Way. … There is nothing like stepping away from the road and heading into a new part of the watershed. Not for the sake of neweness, but for the sense of coming home to our whole terrain. “Off the trail” is another name for the Way, and sauntering off the trail is the practice of the wild.”
“We can enjoy our humanity with its flashy brains and sexual buzz, its social cravings and stubborn tantrums, and take ourselves as no more and no less than another being in the Big Watershed. We can accept each other all as barefoot equals sleeping on the same ground. We can give up hoping to be eternal and quit fighting dirt. We can chase off mosquitoes and fence out varmints without hating them … The wild requires that we learn the terrain, nod to all the plants and animals and birds, ford the streams and cross the ridges, and tell a good story when we get back home. And when the children are safe in bed … we can bring out some spirits and turn on the music, and the men and the women who are still among the living can get loose and really wild. So that’s the final meaning of “wild” – the esoteric meaning, the deepest and most scary.”
„Practically speaking, a life that is vowed to simplicity, appropriate boldness, good humor, gratitude, unstinting work and play, and lots of walking brings us close to the actually existing world and its wholeness.“
“They are part of the first and last practice of the wild: Grace. …It is a plain, ordinary, old-fashioned little thing to do that connects us with all our ancestors.”
Die “Wildnis draußen” unterstützt auf diesem Weg, ja das “Draußen” und das “Drinnen” sind nicht wirklich voneinander zu trennen, sie sind untrennbar verwoben.
Arbeit mit „Wildnis“ und „Wildheit“ im pädagogischen und therapeutischen Kontext
Auch hier gibt es verschiedene Spuren, denen wir folgen können:
- Die „Pädagogische Wildnis“: Erlebnisräume zwischen den definierten Spielräumen (und ebenso Zeiten!) – unverplante Zeiten, nicht zweckbestimmte Räume – Freispiel, Wald als Spielraum … – das sich spontan, aus der Situation heraus Ereignende im Seminar
- Thematische pädagogische Arbeit/Bildungsarbeit , die an die „Wildnis draußen“ anknüpft (d.h. an Landschaften/Naturräume/Gebiete, in denen die Qualität des Wilden spürbar ist, d.h. bei uns insbesondere – aber nicht nur! – Nationalparke, Naturschutzgebiete, Bannwälder etc.)
- Erlebnispädagogik/Erlebnistherapie : In den USA gibt es viele Programme, die an die Wirkungen von Wildnis anknüpfen und diese in therapeutischem Kontext nutzen möchte. Jennifer Davis-Berman/Dene S. Berman beschreiben in ihren Buch „Wilderness Therapy“ einige solcher Programme für verhaltensauffällige Jugendliche und stellen Kriterien für die Konzeption von Therapieprogrammen in der Wildnis auf. Es werden Outdoor-Aktivitäten wie Wandern, Bergsteigen, Kanufahren etc. mit der damit verbundenen körperlichen Anstrengung in einer Gruppe und mit einer professionellen therapeutischen Begleitung durchgeführt, die das persönliche Wachstum der teilnehmenden Jugendlichen fördern und beeinflussen sollen. Die Ziele und Zwecke des Wildnisaufenthaltes werden für den (mit dem?) einzelnen Jugendlichen vorher festgelegt, wie z.B. Zuwachs an Selbstbewusstsein, Kooperationsfähigkeit, Verantwortungsgefühl für sich selbst, andere und die Gesellschaft, Zuwachs an Vertrauen u.a.m.
- Naturtherapie: Das Selbst als das Wilde, Ursprüngliche in uns, unsere Instinktnatur, das Unbewusste: Naturtherapie, so wie ich sie kennen gelernt habe, hat sehr viel mit Wildnis bzw. mit dem Wilden zu tun. Wenn während einer freien Naturerfahrung die gewohnten äußeren Strukturen wegfallen, der Tag völlig ungeplant ist und spontan Impulse spürbar werden – wenn während einer Vision Quest das Erleben sich ziemlich chaotisch anfühlt, wenn Menschen hinter ihren Charakterzügen ihr Selbst entdecken oder ihm zumindest auf die Spur kommen – was ist das anderes als die Entdeckung des Wilden im Menschen?
Ich frage mich:
Habe ich als Therapeut Zugang zur Qualität des Wilden? Kann ich sie wahrnehmen, wenn Menschen von ihrem Erleben draußen berichten? Kann ich spezielle Übungen dazu entwickeln und anbieten? Inwieweit kann ich auf den lebendigen Prozess vertrauen, wie stark ist mein Bedürfnis nach Kontrolle?
Vision Quest : Inwieweit ist Wildnis ein geeigneter Naturraum für Vision Quests? Es ist ein besonderes Erleben, wenn ich weiß, dass ich zwei Tage lang laufen muss, um wieder an eine Straße oder in eine Siedlung zu kommen. Räumliche Zivilisationsferne bringt aber auch einen hohen organisatorischen Aufwand und erhöhtes Risiko mit sich. Und je weiter weg von der gewohnten Menschenwelt ich bin, desto schwieriger fällt es u.U. das Erlebte in Beziehung zu setzen zur Welt zu Hause. Der Grenzbereich zwischen Natur und Kultur, zwischen Wildnis und Menschenwelt eignet sich meiner Erfahrung nach gut für Vision Quests. Bei der Auswahl eines Gebietes sollte darauf geachtet werden, dass sich die Qualität des Wilden dort ausgeprägt manifestiert.
Märchenarbeit : Auch im Rahmen der Märchenarbeit (beim Erzählen, Erarbeiten und Vertiefen) kann ich der Qualität des Wilden Raum gewähren und ihr nachspüren. Es gibt auf der ganzen Welt Märchen von wilden Männern und wilden Frauen, auch die Götter-Mythen bieten hier eine Vielzahl von Figuren und Gestalten.
Vision
“We need a civilization that can live fully and creatively together with wildness” (Gary Snyder).
Es geht darum, eine Kultur zu gestalten, die Wildheit/Wildnis nicht nur aushalten, sondern integrieren kann – und damit auch eine menschliche Kultur, die sich in die wilde, natürliche Welt einfügt.
7 „Wildnis“ – ein Gedicht
In Anlehnung an Erich Fried: Es ist was es ist
„Sie ist eine Herausforderung“,
sagt der Abenteurer,
„die Möglichkeit Unbekanntes zu entdecken,
eigene Wege zu gehen statt vorgegebene,
meine Grenzen zu erfahren.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist unsere Ressource“,
sagt die Primärindustrie,
„wir könne ihre Rohstoffe erschließen und nutzen:
Mineralien, Wasser und Holz.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist unser Kapital“,
sagt die Tourismusbranche,
die Möglichkeiten Touristen hierher zu locken,
Arbeitsplätze zu schaffen und Geld zu verdienen.
Wir vermarkten sie so gut es geht.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist unser Freilandlaboratorium“,
sagen die Biologen,
„hier können wir natürliche Prozesse studieren
und unsere Schlüsse daraus ziehen,
um die Welt besser zu verstehen.
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist das genetische Reservoir unserer Welt“,
sagen die Ökologen,
„wir brauchen sie für unser eigenes Überleben als Menschheit.
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist Lebensraum für unzähligen Pflanzen und Tiere“,
sagen Naturschützer,
„Rückzugsgebiet für bedrohte Arten,
wir müssen sie vor dem Menschen schützen.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist unermesslich reich an Formen, Farben, Stimmungen des Lichts“,
sagt der Naturfotograf,
„ich halte flüchtige Momente mit meiner Kamera fest,
und meine Bilder erfreuen andere Menschen.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Sie ist mein Arbeitsfeld“,
sagen Naturtherapeuten,
„hier ist der Raum, in dem die Seele sich öffnet,
wo Menschen sich selbst begegnen,
hier ist der Ort für Visionssuchen.“
„Ich bin ich“, sagt die Wildnis.
„Ich bin ohne Zweck,
ich existiere aus mir selbst
und für mich selbst.
Ich BIN.“
Matthias Wörne, Januar – März 2004
8 Literaturhinweise zum Thema “Wildnis”, “Wildheit”
Bly, Robert: Eisenhans. München 1991
Davis-Berman, Jennifer und Dene S. Berman: Wilderness Therapy: Foundations, Theory and Research; Dubuque 1994
Estés, Clarissa Pinkola: Die Wolfsfrau; München 1993
Ev. Akademie Tutzing und Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald (Hg.): Wildnis vor der Haustür. Ergebnisse des Workshops 4.-6. Oktober 2001 in Zwieselerwaldhaus
Koch-Weser, Sylvia und Geseko v. Lüpke: Vision Quest: Visionssuche: allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst; Kreuzlingen 2000
Mertens, Margit: Wildnis ist Wandel; in: BUND-Magazin 3/2000, S. 21-23)
* Oelschlaeger, Max: The Idea of Wilderness; New Haven 1991
Schama, Simon: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination; München 1996
* Schaup, Susanne: Henry David Thoreau – Aus den Tagebüchern 1837-1861; Oelde 1996
* Snyder, Gary: The Practice of the Wild; San Francisco 1990
Suchanek, Norbert: Mythos Wildnis; Stuttgart 2001
Tallmadge , John: A Matter of Scale; in: Tredinnick, Mark (Hg): A Place on Earth; Sydney 2003
* www.waldwildnis.de (dort finden sich u.a. Aufsätze und Vorträge von Beate Seitz-Weinzierl, Rolf Haubl, Wolfgang Scherzinger, Inge Schröder u.a.)
(*: zur Lektüre empfohlen)
Matthias Wörne, im Juli und Oktober 2004
Zum Autor:
Matthias Wörne, Jahrgang 1967, Dipl. Sozialpädagoge, Naturpädagoge, Naturtherapeut.
Lebt in der Nähe von Freiburg i.Br. und arbeitet als pädagogischer Leiter der Weiterbildung Naturpädagogik bei der Naturschule Freiburg e.V. Darüber hinaus ist er vor allem in der Seminararbeit mit Erwachsenen tätig und bietet auch Veranstaltungen zum Thema Wildnis an, u.a. das Seminar „Naturreisen: Nachklänge und Ernte“, das sich an Naturreisende wendet, die Interesse haben, ihre Naturerfahrungen unterwegs mit anderen zu teilen und die Schätze, die in diesen Erfahrungen liegen, für sich zu heben.
Kontakt: Matthias Wörne, Im Grünwinkel 1, 79285 Ebringen, rutan-seminare@web.de.