
Naturtherapie, so wie sie an unserer 1992 von Wernher P. Sachon gegründeten Schule gelehrt wird, ist ein spezielles psychotherapeutisches Verfahren. Das Erlebensorientierte therapeutische Arbeiten in und mit der Natur hat den Erlebensraum Natur in die Psychotherapie integriert und dafür spezielle Instrumente und Methoden entwickelt.
Im Mittelpunkt der psychologisch fundierten Naturtherapie steht der Mensch als erlebendes Subjekt, insbesondere als Subjekt seiner Ganzheit – als ein Selbst. Das Selbst, seine Entwicklung, Stärkung und Heilung steht deshalb auch im Mittelpunkt der Naturtherapie, insbesondere auch das Selbst in seiner leiblichen Erfahrungsgestalt.
Das Menschenbild
Ihren anthropologischen Bezugsrahmen entnimmt die Naturtherapie vor allem der P h i l o s o p h i e, insbesondere der Existenzphilosophie und der Naturphilosophie. ‚Natur‘ ist ein philosophischer Begriff mit einer mehr als zweieinhalb tausendjährigen Geschichte. Die Philosophie im antiken Griechenland hat als Naturphilosophie begonnen. Das Gegebene, aus sich selbst heraus Wirkende – Aristoteles sprach von ‚Entelechie‘, also dasjenige, das seinen Zweck in sich trägt – nannte sie physis (gr. phyein, wachsen) und stellte es dem Seinsmodus der techne, dem Menschengemachten gegenüber. Später, insbesondere in der romantischen Naturphilosophie Schellings wird die Natur als ‚schaffenden Natur‘, als natura naturans angesehen. In ihr und durch sie wirkt ein schöpferischer Geist, ihr logos. Das ist gemeint, wenn wir von der ‚Natur der Natur‘, vom Wesen der Seinsweise ‚Natur‘ sprechen.
Wenn wir es mit der Natur zu tun haben, dann haben wir es mit den existentiellen Grundbedingungen des menschlichen Daseins zu tun. Ganz gleich, ob es die nicht-menschliche Natur ist, in die wir untrennbar eingebunden sind, in der wir ‚drin sind‘ wie etwa in der Luft, oder die Natur, die wir selbst sind, etwa als atmendes Lebewesen, das nur im Durchzug der Luft existieren kann. Wir können der biologischen Natur, auch unserer eigenen, nicht entfliehen.
Die Natur greift aber auch von innen nach uns. Das, was wir Psyche nennen, ist ja keineswegs identisch mit unserem Ichbewusstsein und dessen Konstrukten. Auch ist sie bei unserer Geburt kein unbeschriebenes Blatt, sie wird von uralten menschheitlichen und animalischen Instinkten gesteuert: „Unsere Psyche ist Teil der Natur und ebenso unbegrenzt wie diese. Wir können also weder die Psyche noch die Natur definieren, sondern nur so gut es geht, beschreiben, auf welche Weise wir sie erleben.“ (C.G.Jung) Die Negation einer menschlichen Natur hat deshalb fatale Folgen für unser Seelenleben: Sie beraubt uns der ererbten Instinktgrundlage unseres psychischen Lebens und reduziert unser Menschsein zu einem bloßen Bewusst-Sein. Tatsächlich aber leben wir Tag für Tag weit über die Grenzen unseres Bewusstseins hinaus. Wenn wir hier von unserer Natur als Mensch reden, dann reden wir nicht nur von unserer körperlich-biologischen Natur, sondern auch von deren Innenseite, von unserer psychischen Natur.
Gerade unter der allumfassenden Herrschaft einer zunehmend krankmachenden Gesellschaft ist es von zentraler Bedeutung, den Menschen nicht nur als ein gesellschaftliches Wesen, sondern auch in seiner Naturhaftigkeit, in seinem Gegebensein sehen zu können. Nur wenn wir im gespürten Selbst-Natursein unsere menschliche Natur auch als Träger unserer Identität begreifen, steht uns ein Schutz gegen die voranschreitende technische Umgestaltung unseres Menschseins, gegen die Vorherrschaft des Maschinenhaften in der Ideologie des Transhumanismus zur Verfügung.
Ein d e n a t u r i e r t e r M e n s c h, der sich seiner eigenen Natur und seiner eigenen Leiblichkeit entfremdet hat, ist anfällig für Neurotizismen und Störungen aller Art. Er hat nicht nur seine Erdung, sondern auch seine Vollständigkeit als Mensch verloren. Er ist zu einem bloßen Nur-Ich geworden, das sich mit seinen eigenen Konzepten und Konstrukten vollständig identifiziert, er hat sich in seinem Menschsein reduziert. Das therapeutische In-und-mit-der-Natur-Sein, so wie wir es hier an der Schule praktizieren, trägt maßgeblich dazu bei, unsere innere Natur, unsere Instinktgrundlage und die ursprüngliche Kraft der Natur in uns zu beleben und wieder in unser Selbst zu integrieren.
Das therapeutische In-der-Natur-Sein
„Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur und zugleich sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geiste Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluss miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.“ Johann Wolfgang von Goethe, von dem dieser Satz stammt, war Liebhaber und Könner eines empfänglichen und mitschwingenden In-der-Natur-Seins, das immer auch persönlich bedeutsames Selbsterleben ist. Dieser Fähigkeit verdanken wir einige der schönsten Gedichte der Weltliteratur.
Das ‚therapeutische In-der-Natursein‘ ist eine zentrale Kategorie der Naturtherapie. Es ist ein In-und-mit-der-Natur-Sein, das eingebunden ist in den Kontext einer therapeutischen Beziehung und von daher seine Bedeutung erhält. Das therapeutische In-der-Natur-Sein ist als ein S c h w e l l e n r a u m konzipiert, als ein offener Erlebensraum, der klar abgetrennt ist vom alltäglichen Lebensraum mit seiner Alltagspersönlichkeit. Wir lösen unser Selbst aus seiner gewohnten gesellschaftlichen Einbindung und lassen die Forderungen der Welt und des eigenen Ichs an uns selbst zurück. Das Gefühl des Wegseins und des Freiseins macht Menschen besonders veränderungsbereit und ermöglicht neue Erfahrungen des Selbst; es befreit unsere innere Natur und setzt Erholungsprozesse (im Sinn einer Reorganisation des Selbst) in Gang.
Von grundlegender Bedeutung für diese Art des In-und-mit-der-Natur-Sein ist, dass es als ein l e i b l i c h e s D r i n s e i n erfahren wird: Denn nur als Leib, der wir selber sind, können wir von den Qualitäten von Natur-Räumen unmittelbar berührt und beeindruckt werden. Die leibliche Weise des In-der-Natur-Seins ist sinnes-voll, geerdet und sie ermöglicht unmittelbare Teilhabe an den Atmosphären, Stimmungen und an den jahreszeitlichen Qualitäten der Natur durch R e s o n a n z. In einer mitschwingenden Resonanzbeziehung nehmen wir Natur nicht nur gegenständlich wahr, als ein ‚Etwas‘, sondern wir lassen uns von ihr beeindrucken und erleben ihren Widerhall im eigenen Selbstempfinden. Dabei gewinnen wir eine veränderte Perspektive auf unser Leben und können wandelnde und heilsame Selbstprozesse in Gang kommen. Wenn ‚die Natur zu uns spricht‘, dann tut sie es mit der Stimme eines resonanten Selbstempfindens oder sie tut es gar nicht.
Eine solche Weise des In-der-Naturseins entspricht einem grundlegenden Bedürfnis vieler Menschen unserer Zeit, in der die D e n a t u r i e r u n g, d.h. die Entfremdung vom natürlichen Kern des Lebensprozesses rapide voranschreitet und zu einer tiefen Verunsicherung in unserem Daseinsgefühl geführt hat. Dieser Verlust geht einher mit einer Beeinträchtigung unseres Instinktlebens und der natürlichen Fähigkeit unseres Organismus zur Selbstregulation und Selbstheilung. Ein denaturierter Mensch lebt vor allem in der Welt seiner Konstruktionen und Konzepte, er kann sich nicht mehr als eine lebendige Ganzheit auswirken. Die Denaturierung unseres Lebens und unseres Selbst reduziert unsere Vitalität, schwächt unsere Widerstandsfähigkeit und bildet den Nährboden für zahlreiche psychische und psychosomatische Anfälligkeiten und Störungen, etwa den weit verbreiteten chronischen Erschöpfungszuständen eines überforderten Ichs.
In einer lebendigen und dialogischen Resonanzbeziehung mit der Natur öffnet sich für viele Menschen ein R a u m s p i r i t u e l l e n E r l e b e n s, etwa Erfahrungen der Einheit, die Erfahrung, Teil eines Ganzen zu sein oder ein tiefes Gefühl des Angenommenseins als Geschöpf. Solche Erfahrungen im Erlebensraum Natur gilt es im gesprächstherapeutischen Teil der Naturtherapie fortzuführen, etwa zur Annahme seiner selbst, zur Selbstakzeptanz. Im Spiegel des Naturerlebens können wir uns selbst wiedererkennen und vergessene oder abgewehrte Selbstanteile wieder liebend zu uns nehmen. „Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellungen. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan.“ (C.G.Jung)
Der therapeutische Ansatz
In der Naturtherapie geht es nicht um ein ‚Zurück zur Natur‘, sondern darum, unser Natursein wieder zu integrieren, um wieder ganzer, heiler Mensch zu werden. Selbst Natur zu sein versteht sich heute ja längst nicht mehr von selbst. Dazu bedarf es vielmehr einer bewussten Entscheidung und das Einüben einer Haltung, für die Natur, insbesondere für unsere eigene, innere Natur wieder empfänglich zu werden. Oft wird uns die Entfremdung von unserer eigenen Natur erst dann schmerzhaft bewusst, wenn wir krank sind.
Der naturtherapeutische Prozess ist in drei klar voneinander getrennten Phasen strukturiert: Vorbereitungs- und Ablösephase, Schwellenphase, Wiedereingliederungs- und Integrationsphase.
In der V o r b e r e i t u n g s – u n d A b l ö s u n g s p h a s e üben wir die Fähigkeit zum therapeutischen In-und-mit-der-Natur-Sein: Zum unmittelbaren, sinnenhaften Erleben, zur Empfänglichkeit und Resonanzfähigkeit, insbesondere auch zum Sich-von-der-Natur-Ansprechen-und-Beeindrucken-Lassen. Wir üben den Modus der Gelassenheit und Akzeptanz – wir lassen unseren Zielrucksack los, lassen uns selbst und die Welt so sein wie sie ist, das heisst, wir nehmen sie so, wie sie im Erleben auf uns zukommt.
Eine S c h w e l l e zu überschreiten bedeutet, das alltägliche Leben hinter sich zu lassen und in den Erlebensraum Natur einzutreten, in dem andere Gesetze gelten. Schwellenräume sind Zwischenräume – zwischen Ablösung und Wiedereinbindung, zwischen alt und neu. An der Schwelle lassen wir zurück, was uns hindert, uns selbst freizugeben für die Zeit draußen. Das Sich-Herauslösen und das Zurücklassen sind die inneren Bewegungen, die wir an der Schwelle vollziehen. Symbolischer Ausdruck dafür ist etwa, dass wir unsere Smartphones und andere Gegenstände, die uns mit der Alltagswelt verbinden, zurücklassen. Jetzt sind wir bereit, uns ganz auf die Natur und uns selbst einzulassen. Menschen sind in solch einem Schwellenzustand außergewöhnlich offen für neue Erfahrungen.
Nach der Rückkehr, in der P h a s e d e r I n t e g r a t i o n öffnen wir einen Erzählraum im Kontext der therapeutischen Beziehung bzw. Gruppe. Er ist konzipiert als eine Fortführung des Erlebens, um die eigene Erfahrung zu vertiefen und besser verstehen zu können. Dies ist der gesprächstherapeutische Teil der Naturtherapie. Er verlangt schon deshalb eine hohe therapeutische Kompetenz, weil völlig unabsehbare und oft nicht einmal von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen gewollte Erfahrungen zustande kommen, wenn Menschen sich in solche Schwellenräume hinein freigeben und den Eindrücken der Natur hingeben. Immer geht es in dieser gesprächstherapeutischen Phase darum, den Bedeutungsgehalt der eigenen Erfahrung zu erkennen, sie mit der aktuellen persönlichen Situation und Thematik in Bezug zu setzen und das alte Selbstbild mit den neuen Erfahrungen in Kongruenz zu bringen. Wir können den therapeutischen Prozess in dieser Phase durch eine Vielzahl unterschiedlicher Interventionen lenken und methodisch gestalten: Wir können durch Fragen spezifische Aspekte der Erfahrung ins Blickfeld rücken, sie vertiefen und erforschen, neues Selbsterleben empathisch spiegeln und stärken, das Werdende begrüßen und bestätigen, das Überholte verabschieden, die Erfahrung lebendiger Natursymbole gemeinsam deuten, durch Feedback auf problematische Beziehungsmuster hinweisen usf.
Der Prozess der therapeutischen Veränderung ist in der Naturtherapie als ein Entwicklungs- und Beziehungsprozess konzipiert, die beide untrennbar miteinander verwoben sind. ‚Therapie’ ist für uns ganz in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen therapeia ein B e g l e i t e n, das heisst, eine personale und dialogische Beziehung zu einem anderen Menschen, die einen hilfreichen Raum zur Verfügung stellt, in dem er sich anders sehen und verändern kann. Wir sind als Naturtherapeuten keine ‚Behandler‘, auch keine ‚Trainer‘, sondern Begleiter – sind ‚gemeinsam Reisende‘ (Yalom).
Entsprechend der Intensivierung des archetypisch-symbolischen Erlebens im Erlebensraum Natur ist die naturtherapeutische Prozessarbeit auf allen Ebenen stark rituell eingefärbt. Dies gilt auch für den Erzählraum in den Gruppen oder in der Einzelarbeit, der häufig rituell gestaltet wird.
Das Setting der Naturtherapie weist deutliche Besonderheiten gegenüber der traditionellen Psychotherapie in Zimmern und Gruppenräumen auf: Wir halten uns viel draußen im Freien auf, Einzelgespräche und Gruppensitzungen finden oft an geschützten Plätzen im Wald, in Hütten, Jurten o.ä. statt, auch am Lagerfeuer oder bei gemeinsamen Spaziergängen. Dadurch entsteht eine besonders intensive therapeutische Beziehung, die immer auch realen Charakter hat und in der wir uns nicht hinter unserer professionellen Rolle verstecken können. Authentizität und Souveränität, insbesondere auch in unvorhersehbaren Situationen, wie sie draußen in der freien Landschaft immer wieder auftauchen, sind neben einer fundierten Outdoor-Kompetenz deshalb ganz besonders wichtige Merkmale der Therapeutenpersonen in der Naturtherapie.
Naturtherapie findet sowohl im E i n z e l s e t t i n g (dyadisches Unterwegssein draußen) wie auch im G r u p p e n s e t t i n g statt. Die naturtherapeutische Gruppe ist eine therapeutische Entwicklungsgemeinschaft im Sinn einer ‚entwicklungsfördernden einbindenden Kultur‘ (Kegan). Die Erfahrung von Gemeinschaft im Sinne des gemeinsam geteilten Menschseins wird gestärkt durch gemeinsame Aktivitäten wie Singen, Rezitation poetischer Texte, gemeinsame Zeremonien u.ä.
Die Instrumente der Naturtherapie
In der Naturtherapie haben wir eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente im Sinn unterschiedlicher Erfahrungsmedien zur Verfügung, die individuell und indikationsbezogen (s.u.) eingesetzt werden.
Die freie Naturerfahrung (Streifzüge)
Die freie Naturerfahrung in ihren verschiedenen Formen bietet einen offenen Erlebensraum an. Schon deshalb wird sie für viele Menschen zu einem ganz besonderen inneren Abenteuer. In dieser Art des In-der-Natur-Seins befreien wir den von zuviel Gesellschaft und von seiner Ichwelt gepeinigten inneren Menschen. Das zielfixierte, mit seinem ständigen Wollen und seinen Vorstellungen belastete Ich tritt in den Hintergrund und überlässt dem unmittelbaren Selbstempfinden die Regulation des Erlebens und Handelns. Alles, was von selbst geschieht fühlt sich leicht und frei an und wirkt erholsam. Anstelle der gewohnten, focussierten Aufmerksamkeit tritt eine frei schweifende Aufmerksamkeit, die ganz dem gespürten Interesse und der Attraktion durch die Natur folgt. Dabei lösen wir uns von unseren inneren Spannungen und befreien die naturhafte Kraft ursprünglichen Lebens in uns. Offen und empfänglich für die vielfältigen Sinneseindrücke der Natur treten zwanghaftes Denken und Grübeln in den Hintergrund.
Die in uns befreite Natur mit ihren uralten Instinkten kann im Rauschen des Windes und der Bäche deren Geheimnis erlauschen. All das wird für sie bedeutungsvoll, weil die Natur sie von außen berührt und zu ihr spricht. Die natürliche Tiefenperson lebt in einer anderen Zeit als unser Ich und gerät ganz von selbst in tiefe Resonanz mit der Naturzeit der Pflanzen und Tiere, mit den Rhythmen und Zyklen des Tages, des Monats und der Jahreszeiten. „Vermag es der Mensch, sich der in solchem Erleben aufbrechenden Tiefe zu überlassen, dann erfährt er eine Weitung seines Lebensgefühls, die ihn weit über die Grenzen seines gewöhnlichen Lebensgefühls hinausträgt.“ (Karlfried Graf Dürckheim)
Natur als Übung (Naturpraxis)
Mit speziellen Übungen des Leibes, der Erdung (Grounding) und des sinnenhaften Gewahrseins (Sensory Awareness) üben wir eine Verfassung, die uns wieder zum In-der-Natur-Sein und Selbst-Natursein befähigt. Bereits das therapeutische In-der-Natur-Sein (s.o.) hat Übungscharakter: Regelmäßige Spaziergänge, die in dieser Haltung unternommen werden, werden so zu einer Übung des natürlichen Atmens und Gehens, zu einer Meditation einfachen, unmittelbaren Daseins und Mitseins. Unser Geist wird ruhig, das Leben, das wir selbst sind, kommt zu sich. Einzelne Natur-Meditationen, etwa die Betrachtung eines fließenden Bachs, eines äsenden Rehs oder einer Wildrose ergänzen die übenden Möglichkeiten der Naturtherapie.
Rituale des Übergangs und der Heilung.
Das Absinken vom Ichbewusstsein ins Dasein und die Öffnung der tiefen Instinktebene aktivieren in uns die Schicht des archetypisch-symbolischen Erlebens. Die Natur-draußen liefert unserer Psyche eine Fülle persönlich bedeutsamer Symbole, wie wir es sonst nirgendwo finden. Im rituellen Raum können diese Erfahrungen ihren adäquaten Ausdruck finden. In therapeutischen Ritualen und rituellen Gestaltungen, etwa im Kreis des Selbst (s.u.), vollziehen wir symbolhaft seelische Bewegungen mit Gestaltungskraft nach innen, z.B. Rituale der Trennung und Ablösung, der heilsamen Integration u.a. Von besonderer Bedeutung in der naturtherapeutischen Ritualarbeit ist der 10tägige Übergangsritus der V i s i o n Q u e s t (Visionssuche), mit seinem Kernelement, dem viertägigen einsamen Fasten in den Bergen. Derzeit findet dieses Übergangsritual in den Bergen Umbriens in Italien statt.
Kreis des Selbst
Der Kreis mit seinen vier Kardinalpunkten ist ein archetypisches Symbol der Ganzheit des Selbst. Wir arbeiten mit ihm in verschiedenen Weisen und Bedeutungen. Er hilft uns dabei, die Vollständigkeit des Erlebens wieder herzustellen, vergessene und neu auftauchende Selbstaspekte zu integrieren und Erfahrung und Selbstkonzept wieder in Übereinstimmung (Kongruenz) zu bringen. In der Kreisarbeit stellen wir durch Bewegung und Dialog zwischen einzelnen Aspekten des Selbst wieder mehr Flüssigkeit und Kohärenz im Gesamtsystem her. Der Kreis kann draußen jederzeit errichtet werden und als Raum für die Integration problematischer Erfahrungen, für Selbstforschungen und für rituelle Gestaltungen dienen.
Wirkweisen der Naturtherapie
Die Wirkweisen der Naturtherapie speisen sich aus verschiedenen Ebenen, sie bestehen aus einer Kombination von psychotherapeutischen mit milieutherapeutischen Faktoren.
Neben den bekannten gesundheitsförderlichen Einwirkungen einer natürlichen Umgebung (milieutherapeutischer Aspekt) sind es vor allem die bedeutungsvollen persönlichen Erfahrungen im Schwellenraum Natur, die therapeutisch relevante Prozesse in Gang setzen. Diese werden auch maßgeblich beeinflusst von den jeweiligen Erfahrungsmedien (Instrumenten) der Naturtherapie, die dabei zum Einsatz kommen.
Durch die personale und dialogische Beziehungsgestaltung und speziellen methodische Interventionen im gesprächstherapeutischen Teil der Naturtherapie können die neuen Erfahrungen und die in Gang gekommenen Selbstprozesse in ihrem Bedeutungsgehalt geklärt und integriert werden. Dabei kommen auch allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie, wie z.B. Selbsterkenntnis und Selbstkongruenz, Aktivierung und Stärkung von Potentialen und Ressourcen, neue Sichtweisen, Qualitäten der therapeutischen Beziehung, z.B. sich angenommen fühlen u.a. zur Geltung.
Der (zwischen)menschlich-therapeutische Wirkfaktor und der Faktor Natur sind in unserer Arbeit nicht voneinander zu trennen. Sie bedingen und fördern sich gegenseitig auf harmonische Weise. Damit wird die Naturtherapie auch zu einem Sinnbild des Zusammenwirkens zwischen der menschlichen Gestaltungskraft und der Natur. Dies wird beim gemeinsamen In-der-Natur-Sein in der Einzelarbeit ganz besonders deutlich: Im triadischen Beziehungsraum Klient-Natur — Klient-Therapeut — Therapeut-Natur können Erfahrungen meist nicht dem einen oder anderen der drei Protagonisten ursächlich zugerechnet werden. Sie bedingen sich gegenseitig, es ist ein Zusammenwirken, das in seinem schöpferischen Potential die sitzende Dyade im Therapiezimmer oft bei weitem übertrifft.
Einsatz- und Anwendungsbereiche der Naturtherapie
Die Naturtherapie ist ein spezielles, entwicklungsorientiertes und salutogen ausgerichtetes Verfahren der Psychotherapie. Ihre Einsatz- und Anwendungsbereiche sind vor allem:
Selbstbesinnung und Selbsterweiterung, Selbststärkung und Selbstgestaltung im Sinne von Selbstkongruenz und Potentialentfaltung. Dazu gehört auch die Suche nach Bedeutung und Sinn. Das alte ‘gnothi seautón’ (erkenne dich selbst) empfinden wir nach wie vor als ein therapeutisches Leitbild.
Verwurzelung im Dasein und Mitsein durch Wiedergewinnung des Leibseins und der Erdung der gesamten Person. Wiederherstellung von Erlebensfähigkeit, Unmittelbarkeit, Achtsamkeit und Präsenz und einer Verfassung des sinnenhaften Gewahrseins (sensory awareness).
Förderung von Entwicklungs- und Übergangsprozessen, für personales Wachstum, Bewältigung von Entwicklungs- und Übergangskrisen, Überwindung von phasenspezifischen Entwicklungshemmungen und Nachreifung bei Entwicklungsdefiziten. Förderung der Selbstentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, Unterstützung beim Erwachsenwerden.
Förderung von psychosomatischer Gesundheit und Heilung,
Naturtherapie ist ein salutogen ausgerichtetes Therapieverfahren, das sowohl im präventiven wie im kurativen Bereich eingesetzt werden kann. P r ä v e n t i v wird die Naturtherapie vor allem eingesetzt zum Schutz vor Stressfolgeerkrankungen und Burnout; sie öffnet einen Raum für Regeneration und Erholung (re-creation) und für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Selbst.
Entscheidende Parameter für die Erhaltung und Wiedererlangung von Gesundheit und auch für die Aktivierung von selbstregulativen Prozessen der Selbstheilung sind für die Naturtherapie die K o n z e p t e d e r K o h ä r e n z : Selbstkohärenz im Sinne der Selbstpsychologie von Heinz Kohut und des Kohärenzempfindens (sense of coherence) der Salutogenese von Aaron Antonovsky. Maßgeblicher Heilansatz ist, den natürlichen, selbstregulativen psycho-somatischen Prozessen und Tendenzen Raum zu geben und zu unterstützen, die auf die Wiedergewinnung des inneren Zusammenhalts und der Kontinuität des Kernselbst hinzielen und immer wieder Gleichgewichtszustände und Ganzheit herstellen. Gerade die Aufrechterhaltung der Kontinuität des eigenen Kernselbstempfindens im Strudel des rasenden modernen Lebens und der Zeit ist zu einem bedeutsamen Aspekt unseres Gesundseins geworden.
Dabei nutzen wir den N a t u r r a u m, der sich durch Kohärenz und Kontinuität auszeichnet wie kein anderer Erlebensraum. Die Resonanz dieser Naturqualität im eigenen Selbstempfinden stärkt die Selbstkohärenz oft in beeindruckender Weise, was sich durch Steigerung der Stabilität und des Selbstwertgefühls nach therapeutischen Naturaufenthalten manifestiert. Mit der Urkraft der Natur so in Kontakt zu kommen, dass sie sich auch in uns selbst auswirken kann, heisst auch, mit der Kraft in Kontakt zu kommen, die ‚alles im Innersten zusammenhält‘. Sie ist die natürliche Kraft, die das heilsame Potential hat, zusammenzufügen, was auseinandergerissen und verwundet war. Die Wesenskonstanz und Kontinuität der Natur, wie wir sie etwa in den Rhythmen und Zyklen der Jahreszeiten erfahren, sind neben den heilsamen physischen Einwirkungen einer natürlichen Umgebung ein bedeutsamer Gesundheitsfaktor für das durch zu viel Disruption und Spaltung beeinträchtige gesellschaftliche Selbst des Menschen unserer Zeit. Auch die Erfahrung heilsamer Natursymbole ist ein wichtiger Aspekt des ‚natura sanat‘. „Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahre, indem ich täglich mindestens vier … Stunden damit verbringe, absolut frei von allen Forderungen der Welt durch den Wald und über Hügel und Felder zu streifen.“ (Henry David Thoreau)
Als ein psychotherapeutisches Ergänzungsverfahren findet die psychologisch fundierte Naturtherapie auch im k l i n i s c h e n B e r e i c h Anwendung. Dabei wird Naturtherapie nicht symptom- und störungsspezifisch, sondern indikationsbezogen eingesetzt, das heisst: im Sinne von Heilanzeigen.
Beispiel: Naturtherapie hat sich etwa bei leichten und mittleren d e p r e s s i v e n S t ö r u n g e n bewährt. Heilsam wirkt hier bereits die Übung des Leibseins, insbesondere der Erdung in der Leibesmitte (Hara), der Öffnung der Sinne und des natürlichen Atmens und Gehens (Natur als Übung, s.o.) Das therapeutische In-und-mit-der-Natur-Sein bewirkt eine Vitalisierung der ganzen Person und einhergehend mit der Mobilisierung der Lebenskraft und der Intensivierung des Selbstgefühls als auch des Antriebs. Das im vitalisierten Zustand wieder auftauchende lebendige Selbst gilt es zu stärken und im Bewusstsein (Selbstkonzept) zu verankern als ein Gegenpol zum depressiven, niedergedrückten Selbsterleben. Die Fülle an Sinneseindrücke draußen in der lebendigen Natur überfluten das Ichbewustsein und drängen dabei negatives Denken zeitweilig in den Hintergrund. Interesse an der Welt wird wieder geweckt, das bei konsequenter Übung des In-der-Naturseins sogar zur Wiedergewinnung eines freudigen Staunens und auftauchendem Forschergeist führen kann. Die depressive emotionale Erstarrung (Gefühl der Gefühllosigkeit) kann sich bei Erfahrungen des Berührtwerdens durch die Natur und dem damit einhergehenden Selbsterleben wieder lockern und flüssiger werden. Die Erfahrung, draußen in Wald und Flur so sein zu können wie ich bin, sich von der Natur angenommen zu fühlen, auch in einem krankhaften Zustand, stärkt das ‚wahre Selbst‘ (Winnicott), das angestrengt Fassadenhafte und die Niederdrückung von abgetrennten Selbstanteilen mit ihren Emotionen kann hier fallengelassen werden. Viele Menschen erleben dies als eine Befreiung von innerer Last und Schwere. Heilsam erweisen sich insbesondere auch Erfahrungen, dass von der Natur her etwas auf uns zukommt und uns anspricht. Dieses Sich-Angesprochen-Fühlen kann maßgeblich zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstakzeptanz führen. Auch die Erfahrung von persönlich bedeutsamen Natur-Symbolen wird für viele Menschen zu einem zentralen Heilfaktor gegen die depressive Sinnlosigkeit und innere Leere. Den verschiedenen Varianten der freien Naturerfahrungen ist allen gemeinsam, dass sie eine selbstbestimmte Zeit sind, die frei ist von Zielen und Erwartungen. Wir können selbst entscheiden, was wir tun oder nicht tun und uns dabei selbst wieder als wirksam erleben. In der Arbeit mit dem Kreis des Selbst können innere Konflikte bewusst und integriert werden und dabei steckengebliebene Entwicklungen wieder in Gang kommen. E n t s c h e i d e n d für eine therapeutische Änderung ist jedoch i m m e r die Art und Weise, wie solche hilfreichen Erfahrungen in die zwischenmenschliche therapeutische Beziehung einfließen und therapeutisch beantwortet werden.
Unsere Ahnen
Die Naturtherapie, so wie wir sie an der Schule entwickelt haben und lehren, hat eine reiche Ahnengalerie.
In der antiken griechischen P h i l o s o p h i e sind es vor allem die vorsokratischen Naturphilosophen mit ihrer Suche nach der arche, dem Urprinzip, das allem Seienden zugrunde liegt und die Naturphilosophie von Aristoteles, in der er eine Naturbegrifflichkeit entwickelte, mit der wir auch heute noch gut arbeiten können. Von besonderer Bedeutung ist für uns ebenfalls die romantische Naturphilosophie Schellings mit ihrer Betonung der natura naturans, der ‚schaffenden Natur‘. Auch der erst vor kurzem verstorbene Philosoph Gernot Böhme, ein Freund der Schule, hat unsere Arbeit mit seinem leibbezogenen Ansatz, der auf das Selbst-Natursein des Menschen hinzielt, inspiriert.
Einen besonderen Stellenwert haben für uns zwei Schriftsteller, die auch Naturkundige waren und eine neue Kultur des In-der-Natur-Seins entwickelt und praktiziert haben: Johann Wolfgang v. Goethe und Henry David Thoreau (USA). Textstellen und Zitate aus ihren Werken tauchen in fast allen unseren Kursen auf. Die Poesie vermag das Erleben in und mit der Natur oft viel präziser und tiefer zu beschreiben als die Wissenschaft. Für unsere naturtherapeutische Praxis von besonderer Bedeutung ist auch Steven Foster aus Kalifornien, der die Arbeit mit den Übergangsriten für den Menschen unserer Zeit neu konzipierte und bei dem der Autor dieser Zeilen selbst über einige Jahre hinweg gelernt hat.
Aus dem Bereich der Psychologie sind für uns grundlegend insbesondere die Selbstpsychologie von Heinz Kohut, die Persönlichkeitstheorie der Charakteranalyse, insbesondere in der Form, die sie in Alexander Lowens ‚Bioenergetischer Analyse‘ gefunden hat und die fundierte Entwicklungstheorie des Selbst von Robert Kegan.
Am Schluss sollen die zwei Persönlichkeiten genannt werden, die zum Fundament der Naturtherapie gehören: Karlfried Graf Dürckheim (Existential-Psychologie) und C. G. Jung (Analytische Psychologie). Beide waren sowohl philosophisch wie psychologisch gebildet und für beide nahm auch das religiöse Erleben des Menschen einen bedeutsamen Platz in ihrer therapeutischen Arbeit ein. Sowohl Dürckheims personale Leibtherapie als auch Jungs archetypische Psychologie und die daraus fließende Symbolarbeit haben einen zentralen Stellenwert in der naturtherapeutischen Praxis. Deshalb möchte ich, im wertschätzenden Gedenken an C.G.Jung, der ein Liebhaber Goethes war, einen Vers aus dessen Gedicht ‚Epirrhema‘ an den Schluss stellen:
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
(Wernher P. Sachon)
