Ich arbeite als Krankenschwester in der Klinik für Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin Rostock und führe im Rahmen meiner Tätigkeit Kreativtherapien in Gruppen- und Einzelarbeit durch. Seit meiner Ausbildung zur Naturtherapeutin an der Schule für Naturtherapie versuche ich immer mehr, die Natur als Erfahrungsraum in meine Arbeit zu integrieren. Zwar hat das klinische Setting diesbezüglich gewisse Grenzen, es ist jedoch trotzdem möglich und sinnvoll, das naturtherapeutische Arbeiten in Form von Übungen mit und in der Natur als unterstützendes Moment in die Kreativtherapie einzubinden.
Unsere Klinik liegt inmitten eines alten, ehrwürdigen Parks, der neben einem alten Baumbestand auch verwilderte Bereiche aufweist, der für diese Arbeit wunderbar geeignet ist.
Im Folgenden berichte ich über die 29-jährige Patientin Frau S., die ich im Rahmen ihres zwölfwöchigen Aufenthaltes in unserer Klinik in neun Stunden Einzelkreativtherapie à 50 Minuten begleitete:
Frau S. war in das stationäre Setting, das vorwiegend aus Gruppentherapien besteht, eingebunden und erhielt die Einzelkreativtherapie optional. Da wir in unserer Klinik tiefenpsychologisch orientiert arbeiten, dient als Grundlage für unsere Arbeit ein Aufnahmeinterview, in dem wichtige Daten zur Biografie und der aktuellen Lebenssituation erfragt werden, um einen ersten Eindruck von Zusammenhängen zwischen diesen Fakten und der aktuellen Konfliktsituation zu bekommen. Des weitern verschaffen wir uns damit ein Bild von der Stabilität der Persönlichkeitsstruktur und dem Anliegen der Patienten. Das Aufnahme-Interview der Frau S. führte der Bezugstherapeut durch und im berichtete darüber im Team.
Frau S. kam zu uns, nachdem sie die Prüfungen des zweiten Semesters ihres Medizinstudiums nicht bestanden hatte und dieses Ereignis sie in eine tiefe Versagenskrise gestürzt hatte. Aus demselben Grunde war sie bereits zur Krisenintervention auf einer psychiatrischen Station gewesen. Sie berichtete über häufige und starke Wutausbrüche, die sie gegen sich selbst richte. Diese Wut kenne sie von allen männlichen Familienmitgliedern, besonders von ihrem Vater und ihren beiden älteren Brüdern. Die Mutter hatte den Vater in einer „Nacht- und Nebelaktion“ verlassen, als Frau S. 14 Jahre alt war. Diese hatte sich entschlossen, bei ihrem Vater zu bleiben, was sie jedoch bald bereute. Der Vater erwies sich als sehr gewalttätig. Er schlug Frau S. häufig und zerstörte ihre Sachen. Daraufhin floh Frau S. bald zu ihren Großeltern. Dort fühlte sie sich sehr geborgen und konnte besonders zum Großvater eine starke Beziehung entwickeln. Ein wichtiger Teil in ihrem Leben war für sie die Musik: sie spielt Fagott und Gitarre und singt im Chor.
Beginn der Kreativtherapie mit naturtherapeutischen Elementen
Als ich Frau S. das erste Mal sah, erlebte ich eine junge Frau, die sehr jungenhaft gekleidet war und sehr angespannt und verschüchtert wirkte. Nach ihrem Anliegen für die Einzelkreativtherapie befragt, antwortet sie, wie um sich selbst zu gliedern:
- Selbstunsicherheit „bekämpfen“
- Wut ausrichten und nicht gegen sich selbst wenden
- Schamgefühle loswerden
Dann erzählte sie mir, dass kurz vor ihren „vermasselten“ Prüfungen ihre Großmutter gestorben sei und sie bisher keine Zeit gefunden hatte, dies zu betrauern.
Gegen Ende der ersten Sitzung lade ich sie zu einer ersten Übung in der Natur ein. Ich schlage ihr vor, einen Spaziergang in den angrenzenden Park der Klinik zu machen. Dazu beschreibe ich ihr die besondere Haltung, in der sie sich durch die Natur bewegen soll: offen, interessiert und schauend, ohne speziellen Gedanken nachzuhängen, sich ansprechen lassen von der sie umgebenden Natur. Dabei bitte ich sie, Ausschau zu Halten nach einem Symbol für ihre Heilung, etwas das Ihr auf ihrem Weg auffällt, das sie anspricht.
In der nächsten Sitzung berichtete sie von ihrem „Naturgang“ und von dem Symbol, das sie fand: sie habe auf ihrem Spaziergang Glockenläuten gehört, was sie mit tiefem Frieden erfüllt habe. Das sei es, wonach sie sich wirklich sehnt!
Im Verlauf der Sitzung berichtete sie dann immer wieder, dass sie keinen anderen Menschen brauche, sie wolle alleine klar kommen, sei auf niemanden angewiesen. Im Hinblick auf ihren biografischen Hintergrund (häufige Beziehungsabbrüche bzw. unzuverlässige Bezugspersonen) erschien mir das nicht verwunderlich. In den folgenden Sitzungen drehte sich alles um das Thema Wut (auf andere Menschen und sich selbst) und ihr schlechtes Selbstwertgefühl. Um in den Ausdruck der Gefühle zu kommen, arbeitete ich mit ihr vor allem mit dem Material Ton. Nach der vierten Sitzung hatte ich den Eindruck, dass wir auf der Ebene nicht weiter kommen, und ich beschloss für die folgenden Stunden die Stärken und Ressourcen ihrer Persönlichkeit herauszuarbeiten, um so ihr Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Hiefür wählte ich folgende naturtherapeutische Übung: die Erstellung eines persönlichen „Schildes“ auf der Grundlage des „Kreis des Selbst“. Die Metapher des Schildes birgt auf symbolischer Ebene Qualitäten wie Schutz und Verteidigung, Ressourcen und Wurzeln, Herkunft und Identität.
Ausgangspunkt für diese Übung des Schildes ist der Kreis des Selbst (auch der vier Schilde). Dies ist ein naturtherapeutisches Instrument, das seine Wurzeln in der indianischen Tradition des Medizinrades hat, von Steven Forster und Meredith Little in den USA für unsere Kultur aufgegriffen wurde und in der Schule für Naturtherapie weiterentwickelt wurde.
Auch der Psychoanalytiker C.G. Jung arbeitete mit dem Kreis (Mandala) und der Vierheit. Die Basis dieses Instrumentes bildet die Idee, dass wir Menschen das Selbst, das wir sind, als solches nicht wahrnehmen können. Wir können uns aber in den vier Grundaspekten des Seins (Körper, Seele, Geist und schöpferisches Tun) selber erleben. Weiterhin erleben wir Menschen uns im Raum und in der Zeit. Demzufolge orientiert sich dieses Instrument einerseits an den Himmelsrichtungen und ermöglicht Erfahrungen von dem Raum in dem wir leben, und andererseits an den Jahreszeiten (Erfahrung von Zeit). Den einzelnen vier Grundaspekten sind vier psychische Funktionen zugeordnet, über die wir Menschen uns wahrnehmen. Zusätzlich kann man die menschlichen Lebensphasen dazu in Beziehung setzen:
Süden – Sommer:
Körper, Triebe und Impulse, Kindheit und beginnende Jugend (Jung: Empfinden)
Westen – Herbst:
Seele, Gefühle, Jugend, beginnendes Erwachsenendasein (Jung: Fühlen)
Norden – Winter:
Verstand, Verantwortung, Erwachsenendasein, Ältestenschaft (Jung: Denken)
Osten – Frühling:
Kreativität, Intuition, Erleuchtung, schöpferisches Tun, Geburt (Jung: Intuieren)
Ich habe mir für diese Arbeit aus Papier farbige Schilder gefertigt, auf dem die genannten Metaphern stehen. Ich zeigte sie Frau S. mit der Bitte, diese auf sich wirken zu lassen, und auf folgendes zu achten:
- Welche Körperempfindungen sind wahrnehmbar?
- Welche Gedanken, Erinnerungen, Phantasien tauchen auf?
- Welche Gefühle sind spürbar?
Anschließend bot ich ihr an, zu jedem Schild ein Bild aus Ölpastellkreiden zu malen und in der Natur (in der gleichen, wie bereits beschriebenen offenen Haltung) ein passendes Symbol dafür zu finden.
In der darauf folgenden Sitzung, nachdem alle vier Bilder fertig und die Symbole aus der Natur gefunden waren, war Zeit, sowohl von ihrem persönlichen „Schild“ sowie von dem Prozess der Gestaltung, dem Bewegen in der Natur und dem Finden der Symbole zu berichten.
Westen – Herbst:
Zum Herbstaspekt sagte sie, dass sie den Wind in dieser Jahreszeit sehr liebe, deswegen sei sie so gerne am Meer, dort könne sie so viel Kraft spüren. Ich lasse sie ihren verhaltenen Atem wahrnehmen und fordere sie auf, sich jetzt an diese Situation zu erinnern. Plötzlich atmete sie tief durch und sagte dann, dass sie dies als tiefe Befreiung erlebe. Dann sang sie mir spontan ein Lied vor, ein Lied über den Sturm von Hannes Wader. Dieses Lied ist für sie wie ein Aufruf, sich gegen Gewalt und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Ein starkes Symbol für Frau S. im Hinblick auf ihre Kindheit. Als Natur-Symbol hattte sie ein Herbstblatt (es war gerade Herbst) mitgebracht, weil die so schön im Wind tanzen.
Norden – Winter:
Im Winterbild zeigte sich das Meer im Vordergrund und darin ihre tiefe Beziehung zu ihren Großeltern enthalten. Sie berichtete, dass ihr Großvater mit ihr immer auf dem Meer zum Fischen war. Ein zweiter Winter-Aspekt war die Zahlenordnung: sie sagte, Systeme wie z.B. die Zahlen, geben ihr Halt und Orientierung. Daher rühre wahrscheinlich auch ihre Liebe zu den Naturwissenschaften. Als Natursymbol hatte sie einen Farn mitgebracht, denn der wuchs bei Oma und Opa am Meer.
Osten – Frühling:
Zum Frühlingsaspekt sagte sie, dass sie ganz ergriffen war von der Farbe goldgrün. Dieser Schild habe in ihr ein Gefühl der Leichtigkeit ausgelöst, wie „an einem vergessenen Abend als Kind“. Dabei habe sie die Metapher Erleuchtung ganz besonders berührt und bei der Symbolsuche in der Natur (ihr Symbol ist ein Blatt des Rainfarns) habe sie seit langer Zeit wieder einmal gebetet. Dies vermittelte ihr ein Gefühl von Annahme und Geborgenheit auf spiritueller Ebene, so berichtete sie ergriffen.
An dieser Stelle konnte sie eine neue Haltung wie eine neuartige Entdeckung formulieren: im Gegensatz zum Beginn der Therapie habe sie nun erfahren, dass sie andere Menschen brauche, vor allem Geborgenheit in einer Gruppe. Sie berichtete weiter, es sei auch schön, so viel zu fühlen, auch wenn es manchmal weh tun würde.
Süden – Sommer:
Das Sommerbild hatte sie in zwei Hälften geteilt: auf der einen Hälfte befanden sich Symbole für die „angenehmen, lustvollen Impulse“ und standen wie sie erzählte im Zusammenhang mit Erinnerungen an die Oma, ihren Garten und ihre Blumen und ihre eigenen Begabungen, wie Ausdauer, planmäßiges Vorgehen, Systematik. Auf der anderen Hälfte waren Symbole für ihre „unangenehmen Impulse und Affekte“, wie Selbstzweifel, Schuldgefühle, Scham und Wut. In die Mitte hatte sie noch ein Symbol für ihr Medizinstudium gemalt. Sie sagte, das habe sie mit dem Herzen ausgewählt und ihr sei nun klar geworden, dass sie es unbedingt fortführen wolle. Ihr Natursymbol war die Brennnessel, die sie schon als Kind faszinierend fand und die heute noch oft in ihren Träumen auftauche.
Zu ihrer vorletzten Sitzung fertigte Frau S. aus den Bildern der vier Aspekte ihren persönlichen Schild. In die Mitte hatte sie einen Fisch gemalt als Symbol für Jesus und ihr wiedererwecktes religiöses Empfinden.
Wir sprachen noch einmal über die Entscheidungsfindung zur Fortführung ihres Studiums und im weiteren Verlauf über ihre Sehnsucht als Kind. Sie habe sich als Kind überflüssig und nicht gebraucht gefühlt, deswegen habe sie sich eines Tages gesagt, dass sie ihrerseits die Menschen nicht brauche. Als ich ihr daraufhin ihre diesbezügliche Wandlung hin zu den Menschen während des Verlaufs der Therapie widerspiegelte war sie sehr berührt und sagte auf einmal: “Dann ist das ja ein Sehnsuchtsschild!“ – Unter diesem Aspekt betrachteten wir noch einmal ihren Schild und es wurde deutlich, dass es in allen Aspekten um das Thema „Geborgenheit“ ging:
Herbst – geborgen in der Natur (besonders Wind und Meer)
Winter – geborgen bei den Großeltern
Frühling – geborgen bei Gott
Sommer – geborgen in Menschengruppen
Und vielleicht sei die gleiche Sehnsucht der Beweggrund für ihr Medizinstudium, schlussfolgerte sie abschließend.
Wir planten dann gemeinsam die letzte Sitzung. Es war ihr Wunsch, diese im Klinikpark rituell zu gestalten.
In der letzten Sitzung gehen wir gemeinsam in der Abenddämmerung in den Klinikpark zu einem von Frau S. gewählten Platz. Es ist ein kleiner Baumkreis und in seiner Mitte lag ihr Schild. Sie hatte ihre Gitarre mitgebracht und wir eröffneten diese rituelle Sitzung mit dem Räuchern von etwas Salbei und singen gemeinsam ein Herbstlied.
Folgende Ideen stellte sie mir für ihre Zeremonie vor:
Im Westen / Herbst möchte sie ihr Sturmlied singen.
Im Norden / Winter möchte sie Abschied von der Oma nehmen.
Im Osten / Frühling möchte sie die Geschichte ihrer Therapie erzählen und
im Süden / Sommer möchte sie etwas zu ihrem Studium machen.
Frau S. betrat dann ihren Kreis im Westen / Herbst. Sie sang dort voller Kraft ihr Sturmlied und sagte dann, dass sie schon immer rebellisch gewesen sei, nun aber wolle sie eine gute Form von Rebellion finden.
Im Norden / Winter lag ein Foto von ihrer Großmutter und sie betrachtete es lange schweigend.
Sie begann dann ein Gespräch mit ihrer Oma und sagte unter anderem folgendes: “Ich weiß, dass du stolz auf mich warst als ich das Medizinstudium begonnen habe. Sei nicht traurig, wenn es nichts wird – vielleicht klappt es, vielleicht auch nicht.“
Diese Haltung, die sie dabei entdeckte, beurteilte ich als sehr heilsam, weil sie sich selber so den Druck bezüglich des Studiums nahm. Sie weinte dann sehr heftig und lange, wie sie es nach dem Tod der Oma noch nie getan habe wie sie anschließend sagte. Und in diesem Moment geschah etwas Wunderbares: die Glocken der Kirche begannen zu läuten und sie fand ihr Symbol für ihre Heilung aus dem ersten Spaziergang wieder! Wir lauschten schweigend.
Im Osten / Frühling zog sie noch einmal Resümee aus ihrer Therapie: “Ich brauche Menschen und ich kann selber viel für gute Beziehungen tun. Es ist gut, wieder zu fühlen, das macht zwar verletzbar, aber das Leben auch reicher.“
Im Süden / Sommer nah Frau S. ihr mitgebrachtes Studienbuch zur Hand und blätterte darin, wie ein Kind in einem kostbaren Geschenk. Sie verweilte lange und es war wirklich sichtbar, wie sehr ihr Herz an diesem Studium hängt.
Zum Schluss ging sie noch einmal in den Westen und atmete ganz tief, dann folgte ein langes Gebet zu Gott, in dem sie um Beistand bat.
Zum Abschluss überreichte ich ihr mein Geschenk: ein Papierboot mit Frühlingszwiebeln und wir verabschiedeten uns voneinander. Plaudernd gingen wir zurück zu Klinik. Neben mir ging nun eine junge, kraftvolle Frau mit dem Schild ihrer inneren Stärke. Dass diese Starke in ihr weiter wachsen kann und ihr hilft zu leben, dafür bete ich.
Sina Kirchner-Paap
Krankenschwester und Naturtherapeutin (Exist)
Ausbau 2
18258 Vorbeck
sinapaap@t-online.de