Die Bezeichnung Naturtherapeut/in steht für eine neue berufliche Zusatzqualifikation, die ausgebildete Therapeuten/innen und Pädagogen/innen befähigt, „Natur“ als Erlebensfeld und Seinsqualität in ihre Arbeit zu integrieren und naturtherapeutische Methoden für Ziele der Begleitung von Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung und Heilung einzusetzen. Die Autorin hat in den letzten Jahren diese Weiterbildung absolviert und betrachtet das, was sie gelernt hat, im Kontext ihrer Arbeit als Umwelt- und Erlebnispädagogin.
„Es geht nicht um ein Lernen durch die Erfahrung, indem ich erst erlebe und dann das Erlebnis reflektiere, sondern um ein Lernen in der Erfahrung, im Erleben selbst, indem ich ganz präsent darin verweile, ganz bewusst bei der Wahrnehmung bleibe, all dessen, was im Augenblick des Erlebens da ist.“ Mit diesen Worten begann Dr. Wernher P. Sachon, Leiter des Instituts für Existentialpsychologie Bad Wörishofen unsere Weiterbildung. Und er wiederholte sie oft, weil es im Kern genau die Haltung beschreibt, die für die naturtherapeutische Arbeit zentral ist.
Es geht also darum, mich für das Erleben als solches zu interessieren und bei der empfindenden Wahrnehmung dessen, was ist, zu bleiben, ohne vorschnell Interpretationen, Bewertungen oder gar Konzepte darüber zu stülpen. Das fällt uns denkgewohnten Menschen zwar schwer, doch wir erleben genau dies als unglaublich wohltuend und heilsam, denn nur in dieser Offenheit, in diesem Willkommenheißen der „Wirklichkeit“, kann unsere Seele ihre Lebendigkeit entfalten.
Genauso wohltuend und überzeugend empfand ich den phänomenologisch-erlebensorientierten Ansatz der gesamten Weiterbildung, die sich eben nicht nach bestimmten psychotherapeutischen Schulen und theoretischen Konzepten richtet, sondern vor allem an den wahrnehmbaren Wirkungen naturtherapeutischer Methoden auf das Erleben und die Entwicklungen von Menschen orientiert.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Naturtherapie keine theoretische Fundierung hat. Doch es kommt eben auf die Betrachtungsebene an. So haben wir uns jeweils ein Jahr lang mit der Selbstpsychologie, der Charakterpsychologie und der archetypischen Psychologie beschäftigt, haben jeweils eigene Erfahrungen mit den verschiedenen naturtherapeutischen Ansätzen gemacht und entsprechend die Arbeit einschlägiger AutorInnen zum Verständnis der jeweiligen psychischen Prozesse hinzugezogen und gewürdigt.
Doch das Lernen im eigenen Erleben war auch für uns das Zentrale. Und dabei hat mich insgesamt beeindruckt, dass bei aller Subjektivität des persönlichen Erlebens, das wir intensiv miteinander geteilt haben, sich wesentlich mehr intersubjektive Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen ergaben als sonst, wenn wir uns über unsere Interpretationen, Konzepte und Konstrukte der Wirklichkeit austauschen. Das liegt sicher daran, dass Menschen in ihrem existentiellen Kern Kreaturen, also Naturwesen sind und eben nicht nur denkbegabte Kulturwesen, die ihre Wirklichkeit jeweils konstruieren.
Ziele naturtherapeutischer Arbeit
Uns im Naturerleben selbst als Naturwesen zu erleben und uns im Prozess des Lebendigseins stabil zu verwurzeln, bildet daher ein Hauptziel der naturtherapeutischen Arbeit. „Die Wiedergewinnung des Selbst-Natur-Seins ist für den denaturierten Menschen unserer Zeit und Kultur eine Grundbedingung zur Wiedererlangung des vollen Menschseins. Sie ist ein bedeutsamer Faktor für seine leibseelische Gesundung, vor allem in Hinblick auf die Überwindung von Bodenlosigkeit, Narzissmus, Entfremdung und Fragmentierung. Das Selbst-Natur-sein des Menschen manifestiert sich in einem leibhaftigen, spürsicheren, vertrauensvollen und weltoffenen Da-sein, das in den natürlichen Prozessen des Lebens gut verwurzelt ist.“ (1) Mit einem romantisierenden „Zurück zur Natur“ hat die naturtherapeutische Arbeit nicht das Geringste zu tun. Es geht eher um eine bisher wenig entwickelte neue Stufe der bewussten Integration aller Eigenschaften und Fähigkeiten, die unser volles Menschsein ausmachen. Als Menschen sind wir zugleich Teil der Natur und Gegenüber der Natur, wir sind zugleich natürliche Geschöpfe und Mitschöpfer der Welt.
Die Einseitigkeit unserer Kultur
Im Laufe der Evolution haben sich die Lebensformen zu immer differenzierteren Ganzheiten entwickelt und diese sind wiederum zu immer komplexeren Stufen integriert worden. Der Mensch stellt ein Wesen dar, das alle vorhergehenden Stufen des Daseins in sich integriert, von der materiellen über die pflanzliche (vegetabile) und animalische Daseinsweise bis zur Entwicklung spezifisch menschlicher Fähigkeiten wie das Ich-Bewusstsein, das Denken und Reflektieren. Jeder Mensch wiederholt in seiner eigenen Entwicklung im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren diese Stufen der Evolution.
Doch unsere „westliche“ Kultur prägt und fördert unser Menschsein in sehr einseitiger Weise:
Wir glauben ursprünglichere, „primitivere“ Entwicklungsstufen des Daseins – eben unser „Natursein“ – überwinden zu müssen, um unser Menschsein zu entfalten. So tendieren wir in unserer Kultur dazu, sowohl unsere inneren „primitiven“ natürlichen Impulse abzuwerten und zu bekämpfen, wie wir zugleich meinen, auch äußere Naturphänomene mit aller Gewalt unter unsere Kontrolle bringen zu müssen. Dadurch verlieren wir jedoch den Kontakt zu unseren Wurzeln und verirren uns in unseren Konstrukten und Konzepten, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln.
Unsere Kultur bewertet unsere spezifisch menschlichen Fähigkeiten zu denken, zu beurteilen und die Welt objektivierend, naturwissenschaftlich zu beherrschen als höher, wesentlicher und förderungswürdiger als die natürliche Daseinsbasis, die uns geboren hat, die uns lebendig sein lässt, uns trägt und unsere lebenslange menschliche Entwicklung maßgeblich steuert. Denn körperlich-seelisch sind wir selbst Natur. Doch die „Natur“ wird als getrennt vom Menschen als etwas Objektives da draußen gesehen und zudem in der Umweltpolitik reduziert auf eine Quelle von Ressourcen, die wir zum Leben brauchen und deren Endlichkeit unser Überleben als Menschheit bedroht. Beim Natur- und Umweltschutz geht es dann vorwiegend um das „in den Griff bekommen“ von Problemen mit Hilfe technischer Lösungen und um den Erhalt natürlicher Ressourcen für unseren materiellen Nutzen. Die Bedeutung von Natur für unsere seelische Gesundheit und für ein erfülltes menschenwürdiges Leben spielt dabei keine Rolle.
Auf die psychologischen Konsequenzen einer überspitzt einseitigen Bewusstseinskultur hat Erich Neumann bereits in den 50er Jahren hingewiesen: „Der moderne Mensch ist … so weitgehend von der Naturseite … abgespalten worden, dass es in hohem Maße zu einer Erstarrung seiner Persönlichkeit und zu einem Verlust seiner Wandlungsmöglichkeiten gekommen ist…. Der Mensch wird zu einem Teil seiner selbst degradiert und denaturiert, dass er sich nicht mehr als menschliche Ganzheit auswirken kann.“(2) Und Wernher Sachon fügt hinzu: „Der scheinbar unaufhaltsame Prozess der Denaturierung hat den modernen Menschen psychisch beschädigt, hat ihn in seinem Menschsein vermindert. Der Körpermensch und Tiermensch, der naturnahe Kindermensch und Primitivmensch, der wir auch heute sind – sie haben keinen Bewegungsraum mehr in unserer Zivilisation. Wir haben diesen naturhaften Seiten unseres Selbst ihren Erlebensraum genommen. Wir haben nicht nur unsere Naturlandschaften draußen, wir haben auch unsere Naturlandschaften innen zugebaut…Der umfassende Verlust im Erleben natürlicher Daseinsweisen muss inzwischen als ernsthafter Faktor in der Pathogenese verschiedener psychischer Störungen betrachtet werden… .Je weniger ein Mensch im natürlichen Lebensprozess, der er selbst ist, unmittelbar verwurzelt ist, desto mehr ist er darauf angewiesen, sein Selbstempfinden und Selbstwertgefühl in den Bildern und Ideen, die er von sich selbst hat, zu verankern, um so seine Integrität zu stabilisieren.“ (3) Die Konsequenzen kennen wir alle an uns selbst und halten den kulturell bedingten Narzissmus unserer Zeit bereits für normal. Die gefährlichen zerstörerischen Aspekte der inzwischen weit verbreiteten narzisstischen Störungen, von psychisch-geistiger Bodenlosigkeit und von gesellschaftsbedingten Wahnvorstellungen machen wir uns gar nicht oft genug bewusst.
Bewusstes Naturerleben als Basis des Lernens
Auch wenn „Natur“ ein schwieriger Begriff und eine kulturabhängige Konstruktion ist, so bedeutet„Natur“ im ursprünglichen Wortsinn das Geborene. Der Begriff steht im naturtherapeutischen Kontext für den schöpferischen Prozess des Lebens insgesamt, der sich ohne kulturelles Zutun aus sich selbst heraus organisiert. Mit Natur ist also nicht etwas Gegenständliches gemeint und erst recht nicht nur die Natur „da draußen“, abgetrennt vom Menschen und seiner Zivilisation, sondern die Daseinsebenen, die Seinsqualitäten und Prozesse, die das Lebendige und somit auch das Menschliche allgemein durchweben. Dass diese Seinsqualitäten jeweils kulturell bedingt verschiedene Ausdrucksweisen, Bilder, Symbole und Prägungen erfahren ändert nichts daran, dass die Lebensprozesse als solche (wie z.B. Geburt, Wachstum, Entwicklung, Wandlung, Vereinigung von Polaritäten, Vater- und Mutter-Sein, Alter, Krankheit und Tod) Naturprozesse sind, die wir alle in ihrer Urform kennen und archetypisch erleben. Diese Wirklichkeitsebene nennt Wernher Sachon die Seinswirklichkeit, an der wir unmittelbar, sinnenhaft durch Präsenz und Gewahrsein teilhaben können im Gegensatz zur Bewusstseinswirklichkeit, die wir als Menschen als zweite Wirklichkeitsebene konstruieren. Nur wenn wir stabil in den natürlichen Seinsweisen verwurzelt sind, bekommt unsere kulturell konstruierte Welt den nötigen Boden, der sie menschlich, lebenswert und zukunftsfähig werden lassen kann.
„In der Natur draußen tritt uns das Lebendige unmittelbar und unverhüllt gegenüber. In der Begegnung mit der Natur fühlt sich die nach innen zurückgezogene und verkapselte Seele eines Menschen oft angesprochen und öffnet sich auf ungeahnte Weise. Wenn sich Menschen von diesen Bewegungen ihrer Seele berühren lassen, dann kann das einen tiefen Prozess der Öffnung für das Leben einleiten, der ihre Beziehungen zur Welt grundlegend verändern kann.“ (1)
Bei der naturtherapeutischen Arbeit geht es darum, wieder den unmittelbaren Kontakt zu dieser Seinsebene, die uns alle trägt und verbindet, zu gewinnen und im lebendigen Kontakt miteinander dieses Erleben zu würdigen. Das persönliche Naturerleben ist das Eine, mindestens genauso wichtig ist es, diese persönliche Erfahrung in die menschliche Gemeinschaft zu bringen, damit sie in ihrer Fülle willkommen geheißen wird und wirksam werden kann. Das Naturerleben dient also keinem egozentrischen Wellness-Trip, sondern der Gesundung menschlichen Miteinanders insgesamt. Das Ziel ist immer, dass der individuelle Mensch die Fülle seines vollen Mensch-Seins entfalten kann, um als Person in seiner Einmaligkeit der Welt schöpferisch dienen zu können.
Die naturtherapeutischen Methoden orientieren sich jeweils am Anliegen, am Thema, das die Person mitbringt und an ihrer Lebenssituation. Die „freie Naturerfahrung“, bei der man hinausgeht und sich einfach von der Natur ansprechen lässt, ohne spezielle Aufgabe außer ganz präsent zu sein, für das, was da ist, kann bereits als präziser Spiegel meines Selbst und meiner Persönlichkeit dienen, insbesondere wenn die Übung länger als ein paar Stunden dauert. Für Übergangsprozesse im Leben eignen sich am ehesten rituelle Übungen wie der Kreis der Jahreszeiten oder gar die Vision Quest (4)
1. Beispiel: Die freie Naturerfahrung
„Geht hinaus in die Natur und lasst euch treiben. Es gibt nichts zu tun, kein spezielles Ziel und keine Aufgabe. Bleibt einfach nur wach und präsent, für das was da ist, was euch begegnet, was euch anspricht und achtet auf die inneren Empfindungen, die seelischen Bewegungen. Vielleicht gibt es bestimmte Plätze in der Natur, die euch besonders anziehen, verweilt dort und spürt nach, welche Qualitäten da sind, euch anrühren, eure Seele lebendig werden lassen. Wenn euch Gedanken kommen, seht sie euch an, doch lasst sie dann wieder ziehen, wie die Wolken am Himmel. Bleibt einfach wach und präsent bei dem, was im Augenblick da ist.“
Diese Naturübung klingt ganz einfach und banal, doch fällt es vielen Menschen unserer Kultur gar nicht leicht, das Karussell ihrer Gedanken bewusst zu stoppen, das ständige Vorstellen, Nachsinnen und Grübeln sein zu lassen und sich wirklich für die Wahrnehmung, dessen, was da ist, was ihnen begegnet, zu öffnen. Insbesondere dann, wenn die Naturlandschaft, in der die Übung stattfindet, keine spektakuläre ist, sondern unsere wohlbekannte Kulturlandschaft mit Wiesen, Wäldern, Bächen, Zäunen und Wegen.
Doch wenn die Menschen dann nach der vereinbarten Zeit (einige Stunden oder auch einen Tag und eine Nacht) zurückkommen, ist es höchst erstaunlich, was sie berichten und wie viel Lebendigkeit sie oft ausstrahlen. Es hat mich immer wieder fasziniert, wie spürsicher bei den meisten Menschen die Seele in der Natur draußen das findet, was ihr in ihrer Entwicklung weiterhilft. Das Erleben der äußeren Natur ist fast immer als präziser Spiegel unserer inneren Natur und ihrer aktuellen Befindlichkeit.
So fühlt sich der eine von einem großen Baum wegen seiner kräftigen Wurzeln angezogen, weil er selbst vielleicht gerade diesen festen Halt, die eigene Verwurzelung im Leben sucht, ein anderer lehnt sich gerne aufrecht an den Stamm und spürt, wie ihn diese Qualität des Baumes anregt, sich selbst innerlich aufzurichten. Einen Dritten fasziniert, dass die knorrige Rinde und die alten, brüchigen, fast tot aussehenden Äste voll mit jungem, zartem Leben, Flechten und Moosen bedeckt sind und dass aus ihnen noch junge Blätter und Früchte sprießen. Das löst in ihm die empfindende Einsicht aus, dass das Alter – entgegen unserer kulturellen Abwertung – auch eine ganz schöpferische Phase im Leben sein kann und dass es sehr befriedigend sein kann, Boden für junges Leben zu bereiten. Der vierte lässt sich von der Schönheit dieses Baums berühren und entdeckt ihn als Lebewesen, das schon eine lange Geschichte hinter sich hat. Wie auch immer das Erleben eines Menschen ist, es ist wert angeschaut, erkundet und mitgeteilt zu werden, denn jedes unmittelbare Erleben verbindet uns mit der Seinswirklichkeit des Lebens. So können uns in der freien Naturerfahrung sowohl innere Grenzen wie schlummernde Potenziale unserer eigenen Natur begegnen und bewusst werden, zugleich öffnen wir uns immer auch dem Wunder des Lebens, der Begegnung mit anderen Lebewesen und erleben die innere Verbundenheit mit dem, was uns umgibt.
2. Beispiel: Der Kreis der Jahreszeiten
„Der Kreis ist seit Menschengedenken ein Symbol der Ganzheit des Menschen und der Totalität des Lebens und wenn wir die vertikale Dimension der Zeit hinzufügen, dann wird er als Spirale zum Symbol unseres Wachsens und Reifens.“(5) Der Kreis dient als ritueller Erlebensraum in der Natur. Er symbolisiert die Grundstruktur jedes Entwicklungsprozesses als eines jahreszeitlichen, phasenhaften zyklischen Prozesses: Dem Geborenwerden folgen Wachsen, Reifen und Verfallen, um dann wieder neu geboren zu werden. Die Bewegung in diesem metaforischen Erlebensraum hilft uns u.A., uns mit allen Aspekten, auch den Schattenseiten eines aktuellen Lebensthemas zu verbinden und immer wieder in spürbaren Kontakt zu unserer inneren Ganzheit zu kommen.
Die vier Kardinalpunkte des Kreises stehen symbolisch für grundlegende Seinsqualitäten, z.B. für die Qualitäten der vier Himmelsrichtungen, der vier Jahreszeiten, der Hauptphasen im Leben eines Menschen oder auch für Körper, Seele, Verstand und schöpferischen Geist. Es kann hilfreich sein, die Qualitäten der Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft hinzuzunehmen. In der Mitte des Kreises ist zudem der Ort, wo wir uns den vertikalen Kräften zuwenden, der Verbundenheit nach Unten mit der Erde und nach Oben mit dem Himmel.
Die Arbeit im Kreis kann z.B. darin bestehen, sich mit einer Grundfrage, die uns derzeit aktuell bewegt (z.B. was es für mich bedeutet, Mutter zu werden und zu sein) ganz präsent auf alle genannten Grundqualitäten des Seins einzulassen, körperlich-seelisch-geistig und mit Hilfe selbstgewählter Natursymbole. Jedes Mal erscheint dieselbe Thematik unter einem anderen Aspekt. Es ist dabei wichtig, im Kreis in Bewegung zu bleiben und nicht in einer Qualität zu verharren oder eine andere völlig zu vernachlässigen bzw. zu überspringen. Viele Menschen unserer Kultur haben z.B. Schwierigkeiten, sich mit den Qualitäten des Westens, des Herbstes zu versöhnen. Hier geht es u.a. um Abschied und Trennung von der Fülle des Sommers, um das Verfallen und Sterben und den damit verbundenen seelischen Empfindungen von Trauer, Angst oder Schmerz. Es geht um den Gang in die Unterwelt, die Auseinandersetzung mit den Schattenwelten, der Dunkelheit, dem seelischen Unbewussten oder Verdrängten. (6) Doch ohne den Rückzug des Lebens im Herbst und die Konzentration auf wesentlichen Kräfte im Winter kann es keinen schöpferischen Neubeginn im Frühling geben. Beim Üben im Kreis vertraue ich mich bewusst dieser natürlichen zyklischen Bewegung des Lebens an und interessiere mich einfach nur ganz wach dafür, was dabei in meinem Erleben geschieht. Das alleine hat schon eine heilsame Wirkung.
Wie bereits erwähnt, ist die anschließende Rückkehr in eine menschliche Gemeinschaft, in der das persönliche Erleben mit anderen geteilt und von ihnen gespiegelt und gewürdigt wird, für viele Menschen mindestens genauso wichtig, damit ihre Erfahrung Boden bekommen kann, d.h. in die Person integriert wird und im alltäglichen Leben fruchtbar werden kann.
Wirkungen und Chancen naturtherapeutischer Ansätze im Kontext von Umweltbildung und Erlebnispädagogik
Die beiden Praxisbeispiele geben nur einen kleinen Einblick in den Reichtum der Entwicklungschancen, die naturtherapeutische Ansätze ermöglichen können. Nach meiner Erfahrung bildet diese Arbeit eine wesentliche Bereicherung für die Art von Umweltbildung und Erlebnispädagogik, die mich anspricht. Die differenzierte Erforschung und Kenntnis der Natur der menschlichen Seele, die diese Weiterbildung bietet und anregt, möchte ich in meiner pädagogischen Arbeit mit Menschen nicht mehr missen, denn Pädagogik und Therapie liegen in der Praxis sehr eng beieinander. Unsere Aufgabe ist es auch, als PädagogInnen, Menschen in ihrer Entwicklung zu „begleiten“ (die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs therapeia), damit sie werden, wer sie sind und aus sich heraus selbstverantwortlich und schöpferisch ihr Leben und die menschliche Kultur, in der sie leben mitgestalten können.
Es ist klar, dass wir in der konkreten Praxis die Zielsetzungen einer bestimmten Aktivität genau definieren müssen und therapeutische, erlebnispädagogische sowie umweltbildnerische Methoden klar voneinander trennen sowie sie für die jeweilige Zielgruppe jeweils Maß schneidern müssen. Doch dann sehe ich durchaus viele Verbindungsmöglichkeiten, da Selbsterfahrung und Persönlichkeitsbildung immer zum sozialen und ökologischen Lernen mit dazugehören. Ganz praktisch bietet sich z.B. eine Verbindung von Naturerleben, Naturtherapie, kreativen Ansätzen mit Naturkunst, Poesie, Tanz, Musik und Märchen sowie Ritualarbeit zu einem gewählten Thema an. Es gibt bereits von verschiedenen Anbietern Angebote, die erfolgreich therapeutische, künstlerische und erlebnispädagogische Ansätze verbinden. Ein erwähnenswertes Beispiel ist die „kreativ-rituelle Prozessgestaltung“ der Wildnisschule Schweiz.(7)
Etwas allgemeiner betrachtet, erscheint mir die naturtherapeutische Arbeit in Bezug auf das Hauptziel umweltpädagogischer Bemühungen, Menschen zu fördern, sich aktiv und kreativ an der Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft im Sinne nachhaltiger Entwicklungen zu beteiligen, sogar eine wesentliche Basis zu bilden. Denn bei aller Achtung für die derzeitige umweltpsychologische Forschung, die sich mit konstruktivistischen Ansätzen, mit Lebensstilforschung und Strategien des Umwelthandelns befasst, fehlt mir doch der Bezug zu den grundlegenden Motiven menschlichen Verhaltens und Handelns, z.B. der Befriedigung unserer natürlichen körperlich-seelischen Grundbedürfnisse. Die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Schutz, Halt und Geborgenheit, nach Zugehörigkeit, Kontakt, Beziehung, innerem Wachstum, Orientierung und Sinn dienen dem angeborenen Impuls unserer inneren Natur zur Bildung und Aufrechterhaltung der Ganzheit, Integrität und Kohärenz unseres Selbst, der Person, die ich bin. Wir machen uns nur die ursprünglichen Motive unseres Verhaltens und Handelns nicht oft genug bewusst, denn sie werden durch unsere Selbstkonzepte und Denkkonstrukte meist überlagert.
Die naturtherapeutische Arbeit, die vor allem eine bewusste Integrationsarbeit ist, hilft uns u.a. diese natürlichen Grundimpulse der Seele differenziert wahrzunehmen und dementsprechend angemessener zu handeln. So wird uns bewusst, dass es im Grunde hoffnungslos ist, unsere immateriellen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Anerkennung als Persönlichkeit über materiellen Konsum und Statussymbole zu befriedigen, was in der Masse leider zu gewaltigen Naturzerstörungen beiträgt.
Von großer Bedeutung für unser Handeln in der Welt empfinde ich das Naturerleben vor allem auch deshalb, weil es unsere Beziehung und unsere Liebe zum Lebendigen fördert und immer wieder neu stärkt. Das wiederholte bewusste Naturerleben unterstützt mich dabei, den natürlichen Kräften und Entwicklungen des Lebendigen in mir und in der äußeren Natur zu vertrauen, z.B. gerade in größter Not besonders schöpferisch neue Wege für das Leben zu entwickeln. Bei Übergangsritualen in der Natur wie der 4-tägigen Vision Quest oder auch durch jahreszeitliches Erleben kann ich üben, gerade mit schmerzhaften natürlichen Prozessen wie Verlust, Krankheit, Alter und Tod stimmig umzugehen und sie als Chance für Entwicklung zu erleben. Es entwickelt sich mit der Zeit ein Gefühl der grundsätzlichen Geborgenheit im Dasein und dass das Leben an sich mit Sinn erfüllt ist. Aus diesem Grundvertrauen heraus kann ich mich wirklich für das Andere, für das Du öffnen und fruchtbare Beziehungen aufbauen, zu anderen Menschen wie auch zur Natur.
Diese starke innere Verbundenheit zum Lebendigen scheint mir die nachhaltigste Motivationsquelle für das Engagement für Mensch und Natur zu sein. Aus der Du-Orientierung entsteht Mitgefühl und z.B. das Bewusstsein, dass die Befriedigung meiner Bedürfnisse nie ohne Wirkungen auf meine Mitwelt bleiben. Meine Sorgen richten sich dann mehr auf diese Wechselbeziehungen. Und ich erlebe den Dialog mit Anderen als Hauptchance, um gerechtere Wege zu entwickeln, unsere Bedürfnisse so zu befriedigen, dass ein ausgeglichenes Geben und Nehmen zwischen uns Menschen wie auch zwischen Mensch und Natur entsteht.
Eine weitere Wirkung naturtherapeutischer Arbeit ist der Gewinn von Lebendigkeit, schöpferischer Kraft und ungeahnten Freiräumen. Das Verwurzelt-Sein im Lebendigen auf der Erde gibt uns Kraft und Raum für Kreativität und neue Entwicklungen, gerade auch in Notsituationen. Denn ein stabiles Selbst(wert)gefühl führt zu weniger Lebensangst und ermöglicht die Entfaltung von mehr Liebe, offenerer und lebendigerer Beziehungen zu Anderen und somit die Entfaltung tragender sozialer Netze, Gemeinschaften von Menschen, die ganz anders handeln können als ein Mensch alleine. Das Grundmotiv zum Handeln ist dann nicht mehr nur unsere Selbsterhaltung als Menschen, sondern auch das Wohl und Werden des Lebens in seiner Vielfalt, Komplexität und Schönheit. Die bewusste Integration der natürlichen Seinsqualitäten in unser Menschsein und unsere Kultur, die die naturtherapeutische Arbeit fördert, hilft uns, so hoffe ich, bei der Entwicklung einer Kultur, in der unsere spezifisch menschlichen Fähigkeiten – unser Ich-Bewusstsein, unsere Fähigkeit zu denken, zu reflektieren und Welt mitzugestalten – dem Ziel dienen, dass unser Heimatplanet Erde blühender, lebendiger und reicher wird mit Menschen als ohne Menschen.
Literatur:
1. Sachon Wernher P.: Programm 2003 Natur und Therapie
2. Neumann, Erich: Der schöpferische Mensch, Frankfurt 1995, S. 24
3. Sachon Wernher P.: Natur und Therapie, Teil 1, Bad Wörishofen 2002, S. 40-41
4. Da die Vision Quest in e&l 2/99 und 3&4/99 von Wernher Sachon bereits ausführlich beschrieben wurde, gehe ich darauf in diesem Beitrag nicht ein.
5. Sachon Wernher P.: Vision Quest – das einsame Fasten in den Bergen, 5. Auflage 2002 S.43
6. Siehe Schlehufer Anke: Stille und Schweigen, Dämmerung und Nacht –Metamorphosen und Metaphern vernachlässigter Erfahrungen. In Paffrath Hartmut (Hrsg.): Zu neuen Ufern. Ziel-Verlag, 1998
7. Siehe Kreszmeier Astrid Habiba, Hufenus Hans-Peter: Wagnisse des Lernens. Hauptverlag 2000
Informationen
zu Fort- und Weiterbildungen in Naturtherapie sowie die genannten Veröffentlichungen von Wernher Sachon erhalten Sie beim „Institut für Existentialpsychologie“, am Anger 10, 86825 Bad Wörishofen, Tel./Fax: 08247-3 29 78
Autorin
Anke Schlehufer ist Leiterin der Umweltstation „Naturerlebniszentrum“ des Kreisjugendrings München-Land, Burg Schwaneck, 82049 Pullach, Tel. 089/744 140 23. Email: nez@kjr-muenchen-land.de oder anke.schlehufer@gmx.de