Wandern zwischen den Welten
Welche Wirkungen hat Wildnis auf die menschliche Seele? Welches Potenzial liegt in diesem Erleben? Und wie kann es sich entfalten: im jeweiligen Menschen, hier im Alltag und in unserer Gesellschaft? Vermag die Naturtherapie hier einen Beitrag zu leisten?
Das Thema „Wildnis“ ist in den letzten Jahren auch in Deutschland „angekommen“. So wird der Wildnisgedanke in Nationalparks und auch sonst in der Naturschutzszene diskutiert. Der „Wildnistourismus“ in große Nationalparke und in die letzten entlegenen Winkel der Erde (die gleichzeitig immer weniger werden) hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr zugenommen – wir reiselustigen Deutschen sind ganz vorne mit dabei. Aber auch heimische Regionen werben inzwischen mit dem Attribut des „Wilden“: mit „ursprünglicher Landschaft“, „Urwaldrelikten“, mit wieder eingewanderten oder erfolgreich wieder eingebürgerten Wildtieren. Ebenfalls zugenommen haben Angebote der „Wildnispädagogik“, bei denen Interessierte Fähigkeiten erwerben und trainieren können, die uns zivilisierten Menschen weitgehend abhanden gekommen sind: essbare Pflanzen finden und zubereiten, Spuren lesen, Feuer machen usw. Auch die Naturtherapie befasst sich mit der Wildnis, jedoch auf ganz spezielle Weise: als eine Erfahrungsqualität, als ein Aspekt des Selbst, den es wieder zu integrieren gilt. Es gibt in der Diskussion um die Wildnis viel Widersprüchliches zu entdecken. Manche sind der Meinung es gebe sie nicht wirklich, sondern sie sei ein Mythos und existiere nur in der Vorstellung des Menschen. In diesem Aufsatz liegt der Fokus auf dem subjektiven menschlichen Erleben von Wildnis – insbesondere dem Erleben wilder Landschaften in größerer Dimension.
Der persönliche Hintergrund
Wie komme ich dazu mich mit dem Thema Wildnis zu befassen? Seit 15 Jahren unternehme ich Trekkingtouren – allein und zusammen mit meiner Frau. Ich habe dabei Gegenden, Länder, „Plätze“ gefunden und kennen gelernt, die mir viel bedeuten und zu denen im Laufe der Zeit eine innere Verbindung entstanden ist. Besonders verbunden fühle ich mich mit dem Norden Norwegens, mit Island und mit der Insel Tasmanien. Die ausgedehnten Wanderungen haben meine vorherigen, heimatlichen Erfahrungen von Natur relativiert, neue Blickwinkel eröffnet, Sehnsüchte geweckt, mich inspiriert und zuweilen tief berührt. Mitunter bin ich nach Wochen oder Monaten zurück nach Hause gekommen und habe mich hier sehr beengt gefühlt, hatte das Gefühl kaum Luft zu bekommen, habe unter zersiedelter Landschaft und unserer „Agrarwüste“ gelitten, habe die Wildheit der Natur und die Ursprünglichkeit des Landes vermisst und die heimische Natur als gezähmt und wenig inspirierend empfunden.
Doch wenn mein Leben hier ständig von Wehmut und unerfüllter Sehnsucht geprägt ist, laufe ich Gefahr in einer permanenten Spaltung zu leben: Weg-Wollen oder Weg-Müssen wird zum Zwang. Und immerhin füllt das Wohnen hier, mein Alltag, meine Arbeit einen ganz beträchtlichen Teil meines Lebens aus. So habe ich irgendwann begonnen mich für den Brückenschlag zwischen diesen Welten – dem Ort wo ich zu Hause bin, wo mein Alltag stattfindet, und den Orten, an denen ich gerne unterwegs bin – zu interessieren. Wie kann ich diese unterschiedlichen Welten und Erfahrungen zusammen bringen?
Eine weitere Quelle der Inspiration liegt für mich im Nationalpark Bayerischer Wald, den ich während eines Praktikums kennen und lieben gelernt habe. Dort ist für mich „mitteleuropäische Wildnis“ am deutlichsten spürbar und gerne kehre ich hin und wieder dorthin zurück.
In der Weiterbildung zum Naturtherapeuten habe ich schließlich erfahren, welche Wirkung es hat, wenn ich mein Erleben in der Natur draußen in einem Kreis von Menschen mitteilen kann, wenn sich jemand dafür interessiert, was ich erlebt habe, für das „Kleine“, Unscheinbare, das Unangenehme ebenso wie das Großartige. Vor allem nach der Teilnahme an einer Vision Quest hat mich dieses Erleben von Gemeinschaft sehr berührt und bewegt. Wenn jemand an meinem Erleben teilnimmt und es mir wie ein Spiegel zurückgibt, ist dies sehr wesentlich dafür, wie ich eine Erfahrung wirklich „zu mir nehmen“ kann, welche Realität, welches Gewicht sie für mich bekommt, d.h. wie sie sich auswirkt.
Inspiriert haben mich zudem einige Autoren: Henry David Thoreau und vor allem Gary Snyders „The Practice of the Wild“. Diese Sammlung von neun Essays (die leider nur auf Englisch erschienen ist) ist das Beste, was ich bislang zum Thema Wildnis gelesen habe. Bei Snyder habe ich auch eine treffende Bestimmung der Begriffe „Natur“, „wild“ und „Wildnis“ gefunden: „Das Wilde (ist) der Prozess und das Wesen der Natur … Wildnis ist ein Ort, wo sich das wilde Potenzial voll ausdrückt“ (Snyder 1990, S.5 und 12)
Das Erleben von Wildnis
„Die Natur, sagt man, ist Gegenstand der Naturwissenschaft. Sie kann, wie beispielsweise in der Mikrobiologie, gründlich erforscht werden. Das Wilde kann nicht auf die gleiche Weise zum Gegenstand gemacht werden. Wer sich ihm nähern will, muss es von innen heraus zulassen, als eine Qualität, die wesenhaft dafür ist, wer wir sind“ (Snyder 1990, S.194, Hervorhebung durch den Autor).
Wie erleben Menschen Wildnis? Am deutlichsten wird dies, wenn wir einige Stimmen zu Wort kommen lassen. Eine sehr eindrückliche Beschreibung eines Wildnisaufenthaltes findet sich bei Thoreau. Sie stammt aus „The Maine Woods“ und formuliert seine Eindrücke und Gedanken während einer Wanderung zum Berg „Ktaadn“, mit 1.600 m der höchste Berg in Maine/USA. Seine Empfindungen sind anders als diejenigen im heimatlichen Walden, von dem aus er zu der Wanderung aufgebrochen ist (ich lasse dieses Zitat unübersetzt, da ich die Intensität der Erfahrung und den poetischen Ausdruck Thoreaus kaum angemessen übersetzen kann):
„Perhaps I most fully realized that this was primeval, untamed and forever untameable Nature, or whatever men call it, while coming down this part of the mountain … And yet we have not seen pure Nature, unless we have seen her thus vast, and drear, and inhuman, though in the midst of cities. Nature was here something savage and awful, though beautiful. I looked with awe at the ground I trod on, to see what the Powers had made there, the form and fashion and material of their work. This was that Earth of which we have heard made out of Chaos and Old Nights. Here was no man’s garden, but the unhandseled globe. It was not lawn, nor pasture, nor mead, nor woodland, nor lea, nor arable, nor waste-land. It was the fresh and natural surface of the planet Earth, as it was made forever and ever … Man was not to be associated with it. It was Matter, vast, terrific … There was clearly felt the presence of a force not bound to be kind to man … Think of our life in nature, – daily to be shown matter, to come in contact with it, – rocks, trees, wind on our cheeks! the solid earth! the actual world! the common sense! Contact! Contact! Who are we? where are we?“ (Thoreau 1972, S. 69ff)
Einige zeitgenössische Stimmen/Autoren, die eigene Wildnis-Erfahrungen beschreiben:
Jamie Kirkpatrick: „Eine emotionale Erfahrung, die anders ist als die in einem Arboretum … ein Gefühl von Einssein.“
Chris Bell: „Eine Quelle der Inspiration und der Freude … ein inhärentes Verlangen, die Hände auszustrecken und das Leben zu berühren …“
Martin Hawes: „Die Seen und die Hügel brannten mit spiritueller Energie … Das Land selbst war in Ruhe wachsam und lebendig. Begegnungen in dieser Intensität sind selten außerhalb der Wildnis … Gerade die Wildheit der Wildnis erzeugt ein spirituelles Feld, das uns mit der Quelle verbindet, aus der alles Leben entstanden ist.“
John Haines: „Die Pfade die ich ging, führten nach außen in die Hügel und Sümpfe, aber sie führten auch nach innen … mit der Zeit wurden die beiden in meinen Gedanken zu einem …“
Geseko von Lüpke: „Ich-Grenzen zerfließen. Innen und Außen geraten in eine Resonanz, die am ehesten mit den Begriffen der Religion zu fassen ist.“
J.H. Wheelwright: „Die Heilung, die mir der Aufenthalt in der Wildnis bringt, beruht auf der Gelegenheit (…) zu meiner animalischen, instinkthaften Seinsweise zurückzukehren. Nach einer solchen Erfahrung fühle ich mich wieder hergestellt.”
Gary Snyder: „Das Gehen eines Wildnispilgers – Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug – den Pfad hinauf, in diese Schneefelder, mit dem ganzen Gepäck auf dem Rücken: dies ist eine Reihe uralter Gebärden, die ein tiefes Empfinden einer körperlich-geistigen Freude bewirken. Nicht nur beim Rucksackwandern natürlich. Dasselbe widerfährt denen, die auf dem Meer segeln, in einem Fjord oder auf einem Fluss Kajak fahren, einen Garten bestellen, Knoblauch schälen, oder gar auf einem Meditationskissen sitzen. Es geht darum, engen Kontakt zur wirklichen Welt und zum realen Selbst zu machen”.
Und wie geht es mir selbst? Wie erlebe ich wilde Landschaften? Manche machen mich neugierig, wecken mein Interesse, Lust mich dorthin (“hinein“) zu begeben; andere wecken eher Angst – sie wecken Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Einfachheit: mein Platz als Mensch im Kosmos – sie haben eine beruhigende Wirkung: es ist gut so wie es ist; ich Mensch muss die Welt nicht verändern, „besser“ machen (ich muss überhaupt nicht so viel machen), ich darf sie so nehmen wie sie ist – ich verspüre Erleichterung: es gibt sie, sie ist noch da, die Welt wie sie ursprünglich ist – und sie ist die eigentliche Welt, die nicht auf den Menschen bezogene Welt…
Wie erlebe ich mich dabei? lebendig – körperlich: schmerzende Beine und Rücken, müde, mit neuer Energie am nächsten Morgen, verschwitzt riechend – manchmal stark und manchmal schwach, manchmal ausdauernd und manchmal schlapp – klein, ohnmächtig gegen Gewalten der Natur bzw. die Umgebung, auf eine realistische Größe gebracht, demütig.
Für viele Menschen (mich eingeschlossen) ist das Erleben von Wildnis ein ganz besonderes – es ist nicht einfach dasselbe wie allgemein das Erleben von Natur. Anders formuliert: Das Selbst-Erleben des Menschen in der Wildnis ist ein ganz besonderes. Es ist für viele Menschen eine sehr persönliche, eine grundlegende und intensive Erfahrung. Oft beschreiben sie diese als religiös, spirituell, heilsam, Sinn für das Leben stiftend. Zuweilen ist sie verstörend, ängstigend, verwirrend. Es ist die Begegnung mit der wirklichen Welt und mit mir selbst, wie ich wirklich bin, in meiner wirklichen Größe bzw. Kleinheit als Mensch. Dazu gehört die Begegnung mit all dem, was ich selbst in die Wildnis draußen mitnehme: meine „Macken“, meine Charaktermuster, Zwänge, Ängste, Gewohnheiten, Fähigkeiten, die Art und Menge meines Gepäcks …
Das Erleben von Wildnis ist also nicht das Erleben einer heilen Welt im Sinne von: alles ist angenehm und schön. Während in unserer Gesellschaft eine unbestimmte „Sehnsucht nach Natur“ weit verbreitet ist, so bleibt Wildnis oft mit Angst verbunden. Sie ist bedrohlich. Das hat mit Vorstellungen und Phantasien, aber durchaus auch mit realen Gefahren zu tun: das Wetter mit Gewittern, Stürmen, Regen, zu Waldbränden führender Trockenheit, Tiere wie Schlangen und Großraubtiere, die uns Menschen potenziell gefährlich werden können, Verletzungen in abgelegener Gegend – das ist die Wirklichkeit, mit der sich ein Mensch in der Wildnis auch auseinandersetzt.
Zum anderen ist die Wildnis seit jeher der Wohnort der Götter. Viele heiligen Orte waren früher auch wilde Orte. Sie ist der Ort, an dem Menschen aller Kulturen und Religionen auf die Suche nach einer Vision gegangen sind. „Diese Orte sind Pforten, durch die wir leichter erreicht werden können von einer Sicht, die umfassender ist als die menschliche und die persönliche“ (Snyder 1990, S. 100). „Wildnis – welch ein Paradox! Ort des Schreckens, Quelle des Lebens. Metapher für Schöpfung und Chaos, Ursprung und Unberechenbarkeit, Unberührtheit und Bedrohung, die Sehnsucht und Angst wachruft. (…) Die ‚große Mutter’, nährend und strafend, liebevoll und grausam, (…) Schicksalsgöttin, Herrin über Leben und Tod: eine überlegene, undurchschaubare Macht – und damit immer auch heilig“ (von Lüpke 2005, S. 57).
Der Resonanzboden: Das Wilde in uns
In diesem Erleben, in dem „Innen und Außen in eine Resonanz geraten“ oder untrennbar miteinander verwoben sind, möchte ich meinen Blick auf den erlebenden Menschen richten. Was in uns kann dermaßen stark in Resonanz geraten, wenn wir uns in einer wilden Landschaft aufhalten? „Es ist umsonst, wenn wir von einer Wildnis träumen, die in der Ferne liegt. So etwas gibt es nicht. Der Sumpf in unserem Kopf und Bauch, die Urkraft der Natur in uns, das ist es, was uns diesen Traum eingibt“ (Thoreau). Es ist eigentlich nahe liegend: Wenn das Wilde eine wesentliche Qualität der Natur ist, dann muss auch im Menschen als natürliches Wesen dieses Wilde zu finden sein. „Die wilde Natur, die wir in der äußeren Welt zerstören und in Reservate einzäunen, spiegelt sich in der Zähmung der eigenen Wildheit … Was da ruft, ist die eigene Wildheit” (Koch-Weser & Lüpke). Davon zeugt schon unser alltäglicher Sprachgebrauch: Wir reden beispielsweise von „wilden Sitten“, von einem „wilden Kind“ oder „Wildfang“, oder davon, dass es „ganz schön wild zuging“. Wo können wir das Wilde in uns entdecken?
… im Körperlichen:
Gary Snyder: „Glaubst du wirklich daran, dass du ein Tier bist? … Unser Körper ist wild … er reguliert sich weitgehend selbst.“
… im Seelischen:
Sylvia Koch-Weser/Geseko v. Lüpke: „Und auch die (eigene Wildheit) steht für das Unbekannte, Chaotische, Ungezähmte. Da werden Ängste wach, die Kontrolle zu verlieren, verrückt zu werden, Ängste vor der Macht des Unbewussten“.
Gary Snyder: “Die Tiefen der Seele, das Unbewusste – das sind unsere inneren Wildnisgebiete.”
Beate Seitz-Weinzierl: „Die Konfrontation mit unserer Triebnatur oder Tiernatur kann eine Reise ins ´innere Ausland` (Sigmund Freud) werden, die uns zunächst befremdlich und abgründig erscheint. … Die Chance ist dabei (..): Wenn wir uns mit den dunklen Schatten-Seiten unserer Persönlichkeit versöhnen, können uns ganz neue Kräfte zuwachsen, die mit ihrer vitalisierenden Wirkung das Leben bereichern.“
Für Clarissa Pinkola Estés steht Wildheit für die Instinkte („Instinktnatur“), das Spontane, Schöpferische. Sie assoziiert es mit dem „Selbst“ – im Gegensatz zu anerzogenen Rollen, das heißt dem Erworbenen, Konditionierten, dem Charakterlichen.
… im Geistigen:
Tracey Diggins: „Ich habe die Vermutung, dass der wilde Verstand die Lücke zwischen meinen Gedanken ist”– das Wilde in den Pausen des Denkens, das Wilde als das Intuitive, das Nicht-Logische …
Verkörpert wird dieses Wilde im Menschen auch in den Archetypen des Wilden Mannes und der Wilden Frau. Diese Gestalten finden sich in vielen Mythen und Märchen.
Das Erlebens-Potenzial in der Wildnis
Ich möchte an dieser Stelle kurz zusammenfassen, welche Erfahrungen die Wildnis draußen für einen Menschen bereithalten kann. Snyder spricht von „Lektionen“ („lessons of the wild“).
- Verstörung
- Erfahrung von eigenen Grenzen
- Konfrontation mit meinen Charaktermustern
- Zugang zum Unbewussten, Ungezähmten, Chaotischen …
- Berührt werden
- In Kontakt sein mit der Welt, mit dem Leben, mit mir selbst
- Rückkehr zur animalischen, instinkthaften Seinsweise
- Rückkehr zur körperlichen Existenz
- Andersartige Träume
- Demut – der Ort, an dem wir klein werden
- Neue Blickwinkel eröffnen, eine umfassendere Sicht der Welt
- Inspiration
- Gefühl der Verbundenheit, des Eins-Seins
- Spirituelle Energie
- Verbindung mit der Quelle, aus der alles Leben entstanden ist
- Heilung, „Wiederhergestellt-Werden“
- Erfahrung des Numinosen (Religiösen, Spirituellen)
- Erfahrung von Sinn
- Erfahrungen von Ausgesetzt-Sein, Zerbrechlichkeit …
- ………………
Dies soll keine erschöpfende Aufzählung sein, sondern den potenziellen Reichtum, die Fülle und Vielfalt dieses Erlebensraums „Wildnis“ deutlich machen. Im Gegenteil: Das Wilde ist gerade das, was ich nicht in den Griff (auch in „Be-Griffe“) bekommen kann, das Unberechenbare, Spontane, Unerwartete, …
Das Potenzial nutzen – für die eigene Entwicklung und für das alltägliche Leben
Wie kann dies gelingen? Wie können diese Erfahrungen von Wildnis Raum und Kraft bekommen und behalten für die Welt zu Hause, im Alltag? Wie können sie sich auswirken in meinem Leben?
Es wäre schade, wenn dieser reiche Schatz nicht genutzt werden würde. Und es ist dabei ziemlich anstrengend (für den Betroffenen selbst und auch für seine Umgebung), in einer dauernden Spaltung leben zu müssen: hier in der zivilisierten Alltagswelt zu sein und mit den Gedanken ständig in der Ferne oder auf der nächsten Reise, unter den Bedingungen hier zu leiden und in der Sehnsucht nach der Wildnis in der Ferne zu schwelgen, „hier“ und „dort“ nur als diskrepant zu sehen. Es ist ebenso schade, wenn die besonderen Erfahrungen in der wilden Natur zu Hause überhöht und idealisiert und die unangenehmen Elemente verdrängt und übergangen werden, ebenso wenn sie relativiert, eingeordnet, rational erklärt, verglichen und bewertet werden. Es ist schade, wenn wir die Menschen zu Hause in unserem Umfeld an diesen Erfahrungen nicht teilhaben lassen. Es ist schade, wenn das Wilde nur dem „Draußen“ zugeschrieben wird. Es ist gleichermaßen ein Verrat an der Wildnis draußen, an unserer eigenen Seele und an unserer Welt zu Hause.
Kann der Ansatz der Naturtherapie hier einen Beitrag leisten? Eine neue, ungewohnte Erfahrung ist wie ein kleiner empfindlicher Same, der des Schutzes und eines guten Bodens bedarf um keimen zu können. Wenn ich mit meinem Erleben, das für mich wichtig und berührend war, sorgfältig und achtsam umgehe, es in meinem Herzen schütze und bewahre, dann bleibt es „verfügbar“ und ist mir auch in größerem zeitlichen Abstand immer wieder zugänglich. Welchen Raum, wie viel Zeit gebe ich diesem Erleben nach meiner Rückkehr nach Hause? Ist ein Raum zum Nachklingen da? Wie schnell begebe ich mich (aktiv!) in die Geschwindigkeit und den Trott meines Alltags?
In der Weiterbildung Naturtherapie habe ich es immer wieder erlebt, wie wesentlich es ist, anderen Menschen vom eigenen Erleben in der Natur draußen zu berichten zu können. Schon die „schlichte“ Tatsache, dass sich Menschen für das interessieren was ich in der Natur erlebt habe – ob das nach einer einstündigen Übung in der Natur-Kultur-Landschaft unserer Heimat war oder nach einer viertägigen Vision Quest in den Bergen macht da keinen Unterschied – hat eine gute Wirkung auf die Seele. „Interesse“ meint nicht Neugier auf möglichst Tolles oder Spektakuläres, sondern ein aufrichtiges Interesse an dem was war: am Kleinen, Unscheinbaren, Irritierenden genauso wie am Großen, Schönen und Beglückenden. Die Wahrheit ist nicht immer angenehm. Insbesondere für das, was mir Mühe macht (z.B. die eigenen Persönlichkeitsmuster, die bei einem Aufenthalt draußen oft sehr deutlich sichtbar werden), kann ich mich ohne dieses tragende Feld einer mir wohlgesinnten Gruppe kaum wirklich interessieren, da dies für mich sonst zu bedrohlich wird. Im Erzählen und im Gespiegelt-Werden („Mirroring“) wird mein Erleben für mich wirklicher, tiefer, bedeutungsvoller. Es kann sich auswirken auf die menschlichen Beziehungen, wird durch die Gemeinschaft bestätigt („Ja genau so war es – so hast du das erlebt“) und ich habe die Chance ein neues, verändertes Selbstbild zu gestalten. In der Naturtherapie sprechen wir hier von „Integration“: es geht nicht um „Reflexion“ und nicht um „Transfer“, sondern darum, ob ich bereit bin mich selbst durch mein Erleben wandeln zu lassen.
„Nachklänge“ – die Schätze ans Licht heben
Nun findet eine Urlaubsreise natürlich weder in einem naturtherapeutischen noch in einem erlebnispädagogischen Setting statt und ein institutionalisierter Rahmen dieses Ankommens, Nachklingen-Lassens und der Integration ist nicht vorhanden. Wenn ich Glück habe, habe ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen die mir auf diese Weise zuhören und sich interessieren. Wenn ich jedoch bei anderen Menschen nicht wirklich Offenheit dafür spüre, behalte ich mein Erleben für mich oder bleibe an der Oberfläche, erzähle ein bisschen vom Wetter, vom Angenehmen, vom Spektakulären. Mit diesem natürlichen Reflex schütze ich die Erfahrungen, die mir kostbar sind und bleibe jedoch damit allein. Oftmals fällt es nicht leicht das Erlebte in Worte zu fassen und es braucht einen geeigneten Raum auch für die Suche nach dem sprachlichen Ausdruck.
Weil ich erlebe, dass dieser Raum oft nicht vorhanden ist, biete ich unter dem Titel „Nachklänge“ die Möglichkeit für Menschen, die von Reisen in die Wildnis zurückkehren, in einer kleinen Gruppe von Leuten nochmals in ihr Erleben in der wilden Natur draußen einzutauchen, es gleichsam fortzuführen und den anderen davon zu berichten. Dabei spielt es keine Rolle, wie weit und wie lang jemand äußerlich gereist ist oder wenn die Reise schon eine Weile zurück liegt. Wir interessieren uns dabei nicht nur für die „Highlights“, sondern für alles: Beglückendes, Ängstigendes, Inspirierendes, Unangenehmes, Wohltuendes, Irritierendes, Chaotisches … Es ist Raum da, um zu erzählen und Anteil zu nehmen an unserem eigenen Erleben und an dem der Anderen. Bilder, Stimmungen und Empfindungen können hochkommen und wir verweilen einige Zeit bei ihnen. Da kann Problematisches oder Schmerzhaftes deutlich werden, Beglückendes ausgekostet, da kann die eigene Wildheit eines Menschen aufleuchten, eigene Fähigkeiten und Begabungen zum Ausdruck kommen, der Mensch in seinem individuellen Wesen sichtbar werden. Auf diese Weise nehmen wir das Erlebte bewusst zu uns und es kann sich auswirken im Selbst und bei anderen – hier und jetzt. Die natürliche Umgebung, in der dieses Wochenende stattfindet, kann diese Prozesse unterstützen. Schätze zu heben, Früchte zu ernten – dies ist das Ziel der naturtherapeutischen „Nachklänge“.
“Damit die Wildnis überhaupt eine Chance hat, müssen wir etwas von ihr mit uns zurückbringen, wenn wir von unseren gelegentlichen Aufenthalten dort zurückkommen. Wir müssen lernen, die Essenz von Wildnis in unseren Herzen und in unserem Kopf zu behalten, damit wir sogar in unserem städtischen Leben Wildnis erfahren können, als wären wir mittendrin. Wir müssen diese Essenz dicht bei uns behalten und liebevoll hegen und sie dadurch ehren, dass wir uns engagieren für den Schutz der Wildnis.” (Tracey Diggins)
Vision
„Wir brauchen eine Zivilisation, die vollständig und kreativ mit Wildheit zusammenleben kann“ (Snyder 1990, S.6). Es geht darum, eine Kultur zu gestalten, die Wildheit/Wildnis nicht nur aushalten, sondern integrieren kann – und damit auch eine menschliche Kultur, die sich in die wilde, natürliche Welt einfügt.
„Inspiration, Begeisterung und Einsicht hören nicht auf, wenn man aus einer Kirche hinaus ins Freie tritt. Wildnis als ein Tempel ist nur der Anfang. Man sollte nicht in der Besonderheit der außergewöhnlichen Erfahrung verbleiben oder darauf hoffen den Morast der Politik hinter sich zu lassen und in einen Dauerzustand erhöhter Einsicht einzutreten. Der beste Zweck solcher Studien und Wanderungen ist der, in der Lage zu sein, wieder in die Niederungen zurückzukommen und das ganze landwirtschaftliche, vorstädtische und städtische Land als Teil desselben Gebiets zu sehen – nie völlig zerstört, nie völlig unnatürlich. Es kann wiederhergestellt werden und die Menschen können in beträchtlicher Anzahl darauf leben. Großer Braunbär geht neben uns, Lachs schwimmt mit uns flussauf, während wir eine Straße in der Stadt entlang spazieren“ (Snyder 1990, S.101)
Literaturauswahl
Estés, Clarissa Pinkola: Die Wolfsfrau; München 1993
Koch-Weser, Sylvia und Geseko v. Lüpke: Vision Quest: Visionssuche: allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst; Kreuzlingen 2000
Lüpke, Geseko von: Heilige Wildnis; in: Natur und Kosmos 01/2005 S.56-57
Schaup, Susanne: Henry David Thoreau – Aus den Tagebüchern 1837-1861; Oelde 1996
* Snyder, Gary: The Practice of the Wild; San Francisco 1990
* Tallmadge, John: A Matter of Scale; in: Tredinnick, Mark (Hg): A Place on Earth; Sydney 2003, S. 239-244
Thoreau, Henry David: The Maine Woods; Princeton NJ 1972
Thoreau, Henry David: Vom Spazieren; Zürich 2001
www.waldwildnis.de (dort finden sich Aufsätze und Vorträge verschiedener Autoren)
* Übersetzungen der englischsprachigen Zitate durch den Autor
Der Autor (Dipl. Sozialpädagoge, Naturpädagoge, Naturtherapeut i.A., Märchenpädagoge und Erzähler) lebt in der Nähe von Freiburg i.Br. und arbeitet als pädagogischer Leiter der Weiterbildung Naturpädagogik bei der Naturschule Freiburg e.V. Darüber hinaus ist er in der naturpädagogischen Arbeit mit Kindern und in der Seminararbeit mit Erwachsenen tätig.
Das Seminar „Naturreisen – Nachklänge“ wendet sich an Naturreisende, die Interesse haben, ihre Naturerfahrungen unterwegs mit anderen zu teilen und die Schätze, die in diesen Erfahrungen liegen, für sich zu heben. Termine und nähere Information auf Anfrage.
Kontakt: Matthias Wörne, Im Grünwinkel 1, 79285 Ebringen, Tel.: (07664) 600430, rutan-seminare@web.de.